- Telegram gibt sich seit einigen Wochen gesprächsbereit, wenn es um Hass im Netz geht.
- Erst Anfang Februar löschten die Telegram-Betreiber 64 deutsche Kanäle, in denen unter anderem Morddrohungen kursierten.
- Woher rührt dieser Kurswechsel? Experten vermuten ökonomische Motive hinter der neuen Strategie.
Der Online-Messenger Telegram bereitet den Politikern der Ampel-Koalition seit ihrem Amtsantritt im Dezember Kopfschmerzen. Das liegt zum einen an dem Netzwerk selbst, aber auch an den Koalitionären.
In der Corona-Pandemie hat sich der Messenger-Dienst mit dem weissen Papierflieger im Firmenlogo zu einem Kommunikationsinstrument der Wütenden entwickelt. In Zehntausenden von Chatgruppen tummeln sich Querdenker, Impfgegner oder Verschwörungsideologen, die wie am Fliessband Hassbotschaften, Propaganda, wüste Beschimpfungen oder sogar Morddrohungen durch das Internet feuern. Datenanalysen zeigen zwar, dass es sich bei der grossen Mehrzahl der Telegram-Nutzer um friedliche Bürger handelt, doch auf kaum einem anderen Netzwerk tritt eine kleine Minderheit ähnlich aggressiv auf wie dort. Seitdem Politiker wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in Chatgruppen mit dem Tode bedroht wurden, hat die Politik akuten Handlungsbedarf identifiziert.
Telegram belastete die Koalitionsgespräche
Wie Telegram aber dazu gezwungen werden könnte, Straftaten wie Beleidigung, Bedrohung oder Volksverhetzung zu ahnden, daran hat sich nicht erst die amtierende Bundesregierung die Zähne ausgebissen. Während sich bei manchen SPD-Politikern schon zum Ende der letzten Legislatur der Gedanke durchgesetzt hatte, ein Verbot sei unausweichlich, plädierte die FDP für Zurückhaltung. Weder brauche es ein Verbot noch neue Gesetze, hiess es aus der Fraktion, sondern die bestehenden Regeln müssten einfach angewandt werden. Das Strafrecht gelte ja auch im Internet.
Damit hatten die Liberalen ausgerechnet die Mehrzahl der Praktiker wie Staatsanwälte oder Kriminalbeamte an ihrer Seite, die davor warnten, dass ein Telegram-Verbot lediglich die Startrampe für eine neue, noch radikalere Plattform sein könnte. Der Konflikt zwischen der FDP und der SPD wurde so gross, dass er zu Beginn sogar die Stimmung in den Koalitionsgesprächen Ende 2021 belastete. Jedenfalls wunderte man sich in der SPD durchaus über den Auftritt des heutigen Justizministers
Ein Vierteljahr später ist die Lage eine andere – und das liegt vor allem an Telegram selbst. Wochenlang hatte die Bundesregierung erfolglos versucht, den Betreibern mit Sitz in Dubai zwei Bussgeldbescheide zuzustellen. In einem Verfahren ging es um den fehlenden "leicht erkennbaren und unmittelbaren Meldeweg für strafbare Inhalte", in einem zweiten um die Nichtbenennung eines Zustellungsbevollmächtigten für Ersuchen von deutschen Gerichten.
Beide Verfahren sind dadurch entstanden, dass Messenger wie Telegram nach Ansicht der Regierungsjuristen vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) umfasst sind, das auch soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook zu Rechenschaftsberichten oder Löschungen verpflichtet. Telegram lehnt diese Kategorisierung ab, mit Verweis darauf, weder ein soziales Netzwerk zu sein noch eine Gewinnerzielungsabsicht zu haben. Statt den Konflikt vor deutschen Gerichten auszutragen, haben die Telegram-Betreiber jedoch eine andere Masche gewählt: Sie ignorieren die Behördenpost aus Berlin einfach. An der Adresse in Dubai, die im Impressum aufgeführt ist, fanden sich jedenfalls nur einige Briefkästen – die Bussgeldanträge versandeten. Das Verhalten Telegrams war ein Affront, den wohl kaum eine Bundesregierung auf sich sitzen gelassen hätte.
Bundesregierung erhöht seit Wochen den Druck
Seitdem sprechen die beiden zuständigen Häuser, also das von Innenministerin
Nicht wenige fragen sich, welche Strategie hinter der plötzlichen Annäherung steckt. Schliesslich lebt der Messenger von Gründer Pawel Durov – einem Libertären, der sich als Mischung aus Mark Zuckerberg und Neo, dem Protagonisten der "Matrix"-Filme, sieht – vom Nimbus, die grösstmögliche Distanz zu Regierungen zu halten. Seien sie noch so autoritär. Weltweit nimmt Telegram aufgrund seiner Kommunikationsarchitektur deshalb eine wichtige Rolle für Protestbewegungen ein, deren Aufstieg und Niedergang auch davon abhängt, geschützte Kanäle nutzen zu können. Telegram selbst arbeitet immer wieder daran, Zensurmassnahmen gegen den Dienst technisch zu kontern und konnte bislang das Vertrauen herstellen, Daten und ihre Urheber auch unter grösstem politischem Druck nicht auszuliefern. So haben allein im Zehn-Millionen-Land Belarus, das kürzlich eine Welle des Protests erlebt hat, zwei Millionen Menschen die App installiert.
Telegram ist kein reines Altruisten-Netzwerk
Vieles spricht dafür, dass sich hinter den altruistisch wirkenden Absichten des Libertären ein gutes Stück Opportunismus verbirgt. Denn Telegram ist in erster Linie ein riesiger, bislang noch nicht gehobener Datenschatz. Die App ist kostenlos, Werbung gibt es nur vereinzelt, und gleichzeitig schiessen aufgrund des rasanten Wachstums die Kosten für Server, Werbekampagnen und Softwareingenieure durch die Decke. Damit ist die Plattform für Durov aktuell noch ein teures Hobby, denn alle Kosten sollen durch Spenden und aus dessen Privatvermögen finanziert werden.
Dass Durov die Spendierhosen perspektivisch ausziehen möchte, machte er schon 2020 in einem öffentlichen Beitrag deutlich. Das Unternehmen versucht seitdem einen Einstieg in den gigantischen Werbemarkt, etwa mit Werbefunktionen für Unternehmen gegen Bezahlung, mit kostenpflichtigen Angeboten für Premium-Nutzer oder mit einer eigenen Werbeplattform.
Sollte Telegram dadurch in die Profitzone aufsteigen, könnte sich die rechtliche Bewertung auch mit Blick auf das NetzDG und die Gewinnerzielungsabsicht ändern. Und womöglich wäre es Durov auch Recht, ein gedeihliches Auskommen mit den Behörden in einem seiner wichtigsten Zielmärkte zu haben.
Durov betont: Telegram niemals an grossen Konzern verkaufen
Auch ein zweiter Gedanke spricht dafür, dass ökonomische Gründe ein Motiv dafür sein könnten, warum sich Telegram gesprächsbereit gibt. Bislang hatte Gründer Durov stets betont, Telegram niemals an einen grossen Konzern veräussern zu wollen. In den FAQ von Telegram steht etwa, dass die Monetarisierung von Inhalten nur dazu dienen soll, die Infrastruktur und Gehälter der Entwickler zu finanzieren.
Den Verkauf von WhatsApp an Facebook hält der Libertäre deshalb auch für ein Beispiel digitaler Prostitution. Doch wie viel ist dieses Versprechen wert, erst recht, wenn es aus dem Mund eines Milliardärs kommt? Sollte Durov seine harte Position irgendwann räumen wollen, und sein Unternehmen schick für einen Investor machen, wären offene Rechtsstreitigkeiten mit der halben EU oder Pfändungen eine "Red Flag", ein "Warnsignal" für potenzielle Käufer.
Experte warnt vor Naivität im Umgang mit der Plattform
Auch der österreichische Internetrechtler Matthias C. Kettemann sieht in erster Linie ökonomische Motive hinter Telegrams Strategischwenk. "Das Unternehmen will mittelfristig Geld verdienen", erklärt er im Gespräch mit unserer Redaktion und sagt mit Blick auf den Konflikt mit der Bundesregierung: "Nachdem erste Pläne, Werbe-Einschaltungen für Millionenbeträge von ausgewählten Kunden zu ermöglichen, bekannt geworden sind, konnte Telegram diesen Sturm nicht aussitzen."
Kettemann warnt davor, dass sich die Regierung von 64 gesperrten Kanälen blenden lässt – das allein reiche nicht. Das Unternehmen fahre derzeit ein Minimalprogramm, was die Löschung von Hate-Speech angeht, und werde auch in Zukunft nur dann Inhalte löschen, wenn der Druck besonders gross wird. "Insgesamt wird Telegram nicht viel kooperativer werden."
Aktuell verortet Kettemann Telegram in einer Phase des Rebellentums – das Netzwerk sei im Vergleich zu älteren Plattformen noch ein "Teenager". "Auch die anderen Plattformen haben Jahre gebraucht, bis sie einigermassen gut nationales Recht eingehalten haben", so Kettemann. "Telegram will es aktuell noch darauf ankommen lassen, sich revolutionär aufzuspielen. Das ist eine Phase und die letzten Wochen haben gezeigt, dass der Rechtsstaat einen längeren Atem hat."
Langfristig glaubt der Jurist, dass kontinuierliche Kritik, politischer Druck oder Userkampagnen mehr bewirken als ein Totalverbot: "Steter Tropfen höhlt den Stein."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Prof. Dr. Matthias C. Kettemann
- SRF Data - Hassmaschine Telegram: Tausende von Gewaltaufrufen entdeckt
- Talkshow "
Maybrit Illner " vom 04.12.2021 - Netzpolitik.org - Telegram soll sich an das NetzDG halten
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