Immer mehr deutet nach dem Anschlag in Brüssel auf ein Versagen der belgischen Sicherheitsbehörden hin. Bereits Anfang 2015 war der mutmassliche Kopf der Terrorzelle Salah Abdeslam von Ermittlern befragt worden. Ein Gericht kam zu der Einschätzung, er sei "nicht gefährlich" und ordnete keine Überwachungsmassnahmen an. Ein tödlicher Fehler, wie man heute weiss. Was genau lief nun vor den jüngsten Anschlägen schief?
Der meistgesuchte Terrorist Europas, Salah Abdeslam, wurde am vergangenen Freitag nach monatelangen Ermittlungen nur 400 Meter von seinem letzten Wohnsitz entfernt im Brüsseler Stadtteil Molenbeek verhaftet.
Salah Abdeslam: Drahtzieher und Schlüsselfigur
Und das, obwohl der Franzose als Drahtzieher der Pariser Terroranschläge vom November 2015 gilt und auch bei den Vorbereitungen der Attacken in Brüssel eine Schlüsselfigur sein soll.
"Es gab viel zu lange eine völlig verkehrte Einschätzung des Bedrohungspotenzials", sagt der Terrorismusexperte und Autor Jörg H. Trauboth im Gespräch mit unserer Redaktion.
Von einer "belgischen Schlamperei in einem Ausmass, das wir kaum verstehen können", sprach der deutsch-ägyptische Politologe Asiem El Difraoui in der ZDF-Sendung
Und auch Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) zeigte sich erschrocken darüber, dass eine mutmassliche Terrorzelle in Belgien über Jahre unentdeckt bleiben konnte.
"Es ist leichter, solche Zellen zu entdecken, als radikalisierte Einzeltäter", sagte Jäger. "Und das ist das Erschreckende: Dass eine solche Zelle dort nicht entdeckt werden konnte."
Gericht erkennt nicht Gefahr von Salah Abdeslam
Beim Blick auf die Arbeit der Behörden offenbart sich eine Kette von Fehleinschätzungen und Versäumnissen. Bereits im Sommer 2014 besassen die belgischen Geheimdienste Hinweise auf die Gefährlichkeit Abdeslams.
Ende Februar 2015 musste sich der heute 26-Jährige schliesslich den Fragen der Ermittler stellen – er stritt jegliche Verwicklungen in terroristische Aktivitäten ab. Die Richter kamen zu dem Ergebnis, der Franzose marokkanischer Abstammung sei "nicht bedrohlich".
Es sei daher unnötig, ihn abzuhören. Doch wenige Wochen später tauchte sein Name auf einer Liste potenzieller Dschihadisten des belgischen Terrorüberwachungsdienstes auf. Im Juni wurden das Rathaus und das örtliche Polizeikommissariat von Molenbeek darüber informiert.
Es passierte: nichts. Die Staatsanwaltschaft schloss den Fall.
Ein tödlicher Fehler, wie wir heute wissen. Im November ermordeten Terroristen bei koordinierten Angriffen in Paris 130 Menschen, in Brüssel sind nun mehr als 30 Opfer zu beklagen.
In beiden Fällen führen die Spuren zur rund 30 Mann starken Zelle um Abdeslam in die Islamisten-Hochburg Molenbeek.
Der französische Abgeordnete Alain Marsaud zürnte einen Tag nach dessen Verhaftung: "Die 130 Toten von Paris, die verdanken wir den Belgiern, die verdanken wir der Mannschaft von Molenbeek und der Unfähigkeit der Belgier, dieses Problem zu lösen."
Uneffektive Strukturen, programmiertes Chaos
Jörg H. Trauboth sieht in uneffektiven Verwaltungsstrukturen eine Ursache für die schlampige Polizeiarbeit. Belgien ist in einen niederländischsprachigen Teil (Flandern) und einen französischsprachigen Teil (Wallonie) geteilt.
"Das Land ist zerrissen und nicht effektiv regierbar", betont der frühere Luftwaffen-Oberst, der selbst drei Jahre bei der Nato in Brüssel gearbeitet hat und ein solches Anschlagsszenario in seiner Doku-Fiction "Drei Brüder" vorhersagte.
"Dort gibt es gleich sechs Polizeibehörden, die ihre Informationen aber nur beschränkt untereinander austauschen. Das ist das programmierte Chaos."
Trauboth hält es zudem für bedenklich, dass die Zentrale der EU in einer Stadt liegt, die "sicherheitstechnisch so schlecht organisiert ist."
Eine weitere Erklärung für die Probleme mit den Islamisten formulierte der belgische Senator Alain Destexhe in einem Beitrag für die französische Tageszeitung "Le Figaro": "Im Namen der Religionsfreiheit und der Multikulturalität haben es die belgischen Behörden radikalen Gruppen viel zu lange erlaubt, sich zu entwickeln."
Den wenigen Kritikern seien Stigmatisierungsversuche oder Islamophobie vorgeworfen worden.
Experte: Europäische Terroristen-Datenbank schaffen
Trotz der offenkundigen Versäumnisse in Belgien, die bereits vorhandenen Informationen effektiv zu nutzen, werden nun auch Forderungen nach einem verstärkten Datenaustausch der Sicherheitsbehörden in Europa laut.
"Die Anschläge sind eine Chance, eine zentrale europäische Terroristen-Datenbank zu schaffen, in der alle Informationen zusammenlaufen", sagt Experte Trauboth. Er befürwortet zudem die Gründung einer länderübergreifenden Anti-Terroreinheit.
Wenn die Zusammenarbeit nicht verbessert werde, könnte es "2016 noch mehr Tote durch islamistische Anschläge geben als 2015."
Der Terrorismusexperte Peter Neumann erklärte im ARD-"Brennpunkt, es sei ein grosses Versäumnis, dass sich die Menschen im europäischen Schengen-System frei bewegen könnten, "aber gleichzeitig Sicherheitsbehörden immer noch nicht nahtlos zusammenarbeiten".
So konnte Top-Terrorist Abdeslam in den vergangenen Jahren mit dem Pkw mehrfach unbehelligt durch Europa fahren, ohne entdeckt zu werden.
Selbst in Teilen der belgischen Behörden ist nach einem Bericht der Zeitung "L'Echo" nun die Erkenntnis gereift, dass die Attentate vermeidbar gewesen wären, "wenn man die vorliegenden Informationen richtig ausgewertet hätte."
Einer der Untersuchungsbeamten erklärte der Zeitung: "Wir haben uns wirklich wie totale Amateure benommen."
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