Sie stehen keine hundert Kilometer vor Bagdad – zehntausend Dschihadisten um Isis-Führer Abu Bakr al-Baghdadi haben bereits weite Teil des Iraks und Syrien eingenommen. Die sunnitische Miliz will trotz andauernder Kämpfe Fakten schaffen - und ruft einen Kalifat-Staat islamischer Ordnung aus. Was das bedeutet, erklärt Orient-Experte Dr. Dietrich Reetz.

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Dr. Reetz, was genau versteht man unter einem Kalifat?

Dr. Reetz: Der Begriff wird von verschiedenen Akteuren unterschiedlich gebraucht. Grundsätzlich ist damit gemeint: Ein Staat, in dem das Gesetz Gottes gelten soll, in dem er durch einen Stellvertreter auf Erden vertreten wird, den Kalifen. Allerdings stellt sich dabei die Frage, was genau unter Gottes Gesetzen zu verstehen ist. Immerhin erfolgt eine Anwendung religiöser Vorschriften durch einen Staat immer auf Basis von Interpretation. Und zwar der Interpretation von heute lebenden Menschen und deren Vorstellungen von Zusammenleben.

Ist ein Kalifat-Staat demnach ein Gottesstaat?

Das wäre zu vereinfacht. Das Kalifat orientiert sich an der Regierungstradition früherer muslimischer Reiche. Reiche, übrigens, die sehr unterschiedlich verwaltet wurden. Im Islam gilt zum Beispiel das Fallrecht. Das heisst, Sie können zu einem Rechtsgehlehrten gehen, einem sogenannten Mufti, der ihnen eine bestimmte Fatwa (Rechtsauskunft) gibt, und dann können Sie zu einem anderen Mufti gehen, der ihnen eventuell eine andere Fatwa gibt. So können sich viele Leute ihr Recht praktisch nach ihren Bedürfnissen selbst schneidern. Aus westlicher Sicht sieht es nur so aus, als ob im Islam nur ein Recht gelten würde. Tatsächlich herrscht dort eine gewisse Flexibilität. Das Recht hat viele Quellen, sagt man. Wenn – wie nach westlichem Recht – nur ein Recht für einen ganzen Staat gelten sollte, entfernt sich die Isis von einer der wichtigsten muslimischen Traditionen.

Was will die Isis dann mit einem Kalifat erreichen?

Zuerst muss man wissen: Für die Isis, die ja aus Sunniten besteht, haben Kalifen als Stellvertreter Mohammeds einen grossen Stellenwert für die sunnitische Tradition. Die Schiiten hingegen beziehen sich auf Mohammeds Schwiegersohn, Ali. Für sie sind die Kalifen nach Mohammed Verräter, die Ali um seine Rolle als unmittelbaren Nachfolger des Propheten gebracht haben. Es geht der Isis also sicher nicht nur um die Einführung religiöser Gesetze, sondern auch um Sunniten gegen Schiiten. Was die Isis tatsächlich will, lässt sich aber im Moment eher schwer abschätzen. Denn, was wir über die Isis wissen, ist, dass sich diese Gruppe aus unterschiedlichen Akteuren zusammensetzt. Darunter sind zum Beispiel auch ehemalige Anhänger von Saddam Hussein, die momentan im Irak weitestgehend von der Macht ausgeschlossen sind. Ich würde deshalb momentan keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wahrscheinlich müssen die Isis-Kämpfer untereinander erst einmal aushandeln, was sie genau vorhaben.

In einer Sache sind sie sich anscheinend aber schon einig: In der bereits eroberten irakischen Provinz Ninive dürfen Frauen gemäss der Isis das Haus nur verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist. Sie sollen nur Kleider tragen, "an denen Gott Gefallen findet" ...

Wenn im Namen des Koran bestimmt Forderungen erhoben werden, hat man es immer mit einer enormen Bandbreite an Interpretationen zu tun. Gerade auch, wenn es darum geht, der religiösen Forderung nach Verschleierung gerecht zu werden. Versteht man darunter eine Burka mit einem Schlitz oder einfach nur ein Kopftuch? Da weichen die Interpretationen innerhalb der Sunniten zwischen einzelnen kulturellen und geografischen Regionen sowie theologischen Ausführungen erheblich voneinander ab. Die Frage lautet dann: Wer setzt sich durch? Ich warne aber davor, Angst zu schüren vor einer in Burkas gekleideten Armee von Frauen. Man vergisst dabei, dass in der islamischen Welt die Ganzkörperverschleierung erst im 19. Jahrhundert eingeführt wurde. Die Burka, so wie wir sie beispielsweise aus Afghanistan kennen, ist zudem nicht nur der Stammeskultur geschuldet, sondern auch den geografisch-klimatischen Bedingungen. Damit sollen natürlich Gewalttaten weder erklärt noch entschuldigt werden, da Gewalt im Koran nur aus Verteidigungsgründen legitim ist, die hier wohl eher nicht zutreffen.

Dr. Dietrich Reetz forscht am Zentrum Moderner Orient und lehrt seit 1991 Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
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