In Europa hat sich seit 2004 die Häufigkeit terroristischer Anschläge seitens islamistisch motivierter Täter erhöht. Die "Je suis ..."-Momente reihen sich nicht nur gefühlt immer dichter. Doch ein Blick auf Datensätze wie den aktuellen Terrorismus-Index zeigt: Das Gros der Opfer terroristischer Attacken haben andere Regionen zu beklagen.
Seit 2004 häufen sich die terroristischen Anschläge in Europa. Fast jedes Land ist betroffen von der Gefahr zumeist islamistisch motivierter Gewalttaten.
Und in diesen Zeiten, da der IS als Terrorstaat geschlagen scheint, ist die Sorge vor Anschlägen doppelt gross. Die militärische Schwächung könne damit einhergehen, dass die Terrormiliz ihre Macht mit Gewalttaten zu festigen versucht, so die Befürchtung.
Der Terrorismus sucht sich seine Opfer aber vor allem dort, wo seine Ursachen liegen: In Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten, in Afghanistan. Allein dort forderte Mitte Oktober eine eintägige Terror-Offensive der Taliban mit Selbstmordattentaten und Überfällen mindestens 85 Opfer.
Es gerät bei all dem Leid der vergangenen grossen Anschläge auf europäische Metropolen leicht in Vergessenheit, dass Europa im weltweiten Vergleich nach wie vor eine untergeordnete Position einnimmt, sowohl in punkto Zahl der Anschläge als auch in punkto Opferzahlen.
In den vergangenen 17 Jahren entfielen 99 Prozent der Terroropfer auf Länder, in denen politische Verfolgung oder militärische Gewalt Alltag sind.
Terrorismus in Europa
Seit 2004 fanden in den Metropolen Europas 25 Attacken seitens islamistisch motivierter Täter statt, bei denen fast 800 Menschen starben, die Attentäter nicht mit eingerechnet. Mehrere Tausend Menschen wurden verletzt.
Weniger als zwei Prozent sterben in Europa
Zum Vergleich: Weltweit starben dem Terrorismus-Index des Institute of Economic and Peace (IEP) zufolge zwischen 2004 und 2016 deutlich über 150.000 Menschen aufgrund terroristischer Attacken jedweden Motivs.
Laut dem Geoinformationsanbieter Esri starben davon 2017 bis Ende Oktober 6.482 Menschen bei 1.022 terroristischen Anschlägen.
Davon gingen 377 Anschläge mit 2.611 Toten allein auf das Konto der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), der am globalsten aufgestellten Terrororganisation mit Zellen von den Britischen Inseln bis Australien.
Laut derselben Quelle starben dieses Jahr bei insgesamt 20 islamistischen Anschlägen in Europa 115 Menschen. Damit entfallen auf Europa weniger als zwei Prozent aller Terroropfer 2017 bei etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung.
Weltweit betrachtet steht Europa damit neben den grossen Terrorherden vergleichsweise sicher da.
Islamistischer Terror wird stärker wahrgenommen
Laut dem aktuellen Terrorismus-Bericht von Europol sind von 142 erfolgten, vereitelten oder fehlgeschlagenen terroristischen Angriffen 2016 in der EU gerade einmal 13 dschihadistischen Ursprungs. Links- und Rechtsterrorismus sowie vor allem Separatismus sind für 127 Attacken verantwortlich.
Das Hauptaugenmerk der Öffentlichkeit aber liegt auf Anschlägen mit islamistischem Hintergrund. Angriffe von Seiten rechts- oder linksradikaler Täter, Nationalisten, Separatisten und anderweitig motivierter Gewalttäter werden nur bei hohen Opferzahlen öffentlich wahrgenommen, etwa im Falle des Anders Breivik am 22. Juli 2011 in Norwegen oder des Amoklaufs von David S. in München am 22. Juli 2016.
Vergessen scheint auch, dass der islamistische Terrorismus seit 2001 weit weniger Opfer gefordert hat, als der Terror der 1970er und 1980er Jahre. Damals stachen in Europa vor allem die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland oder die Irisch-Republikanische Armee (IRA) in Grossbritannien hervor.
Einige Terrororganisationen agieren überhaupt nicht in Europa, etwa Boko Haram oder die Taliban, andere nicht mehr so oft, wie Al-Qaida. Der letzte Anschlag der Al-Qaida in Europa war der Angriff auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" in Paris im Januar 2015.
Der im letzten Jahr für die meisten Terrortoten weltweit verantwortliche IS wiederum dient oft als Propaganda-Hintergrund für individuell radikalisierte Täter, sogenannte "einsame Wölfe“.
Der mediale Fokus suggeriert, dass Europa im Fadenkreuz des internationalen Terrors steht. Das ist nicht falsch, aber irreführend.
Es ist richtig, dass sich die Aufmerksamkeit der international agierenden Terrororganisationen von den USA nach Europa verlagert hat.
Die Hauptlast des Terrors tragen andere Regionen
Doch die Hauptlast des durch Terror verübten Leids haben nach wie vor andere Regionen zu tragen.
In Afrika sind drei grosse Terrorherde zu verzeichnen: Mali, Nigeria und Somalia. In Asien sind es der Nahe und Mittlere Osten sowie Afghanistan.
Terroropfer in Afrika und Asien von Januar bis November 2017
- In Mali forderten 20 islamistisch motivierte Angriffe, vor allem des maghrebinischen Regionalablegers der Al-Qaida, 134 Menschenleben
- In der Region um Nigeria tötete Boko Haram bei 90 Angriffen 569 Menschen, vor allem im Nordosten Nigerias und im Norden Kameruns.
- Am Horn von Afrika kamen bei 73 Angriffen der somalischen Al-Shabaab-Milizen 789 Menschen ums Leben
- Im Irak tötete der IS bei 203 Anschlägen 1.246 Menschen
- Die 87 Terrorattacken der Taliban kosteten in Afghanistan 962 Menschen das Leben
Ein schwieriger Vergleich
Natürlich kann man Opfer- und Anschlagzahlen nicht einfach vergleichen. Die hauptsächlich betroffenen Staaten sind sogenannte "failed states“, zerrissen im Bürgerkrieg mit kaum funktionierenden Staatsorganen.
Es sind Regionen, in denen Polizei und Geheimdienste nicht wie in Europa in der Lage sind, die meisten Angriffe abzuwehren. Und es sind Gebiete mit mangelhafter medizinischer Versorgung, worauf ebenfalls ein Teil der Opferzahlen zurückgeht, da Verletzte geringere Überlebenschancen haben.
Es geht nicht um Relativierung oder einen Vergleich, sondern um eine Darstellung dessen, wie stark die Terroropfer in Europa wahrgenommen werden und wie verzerrt deswegen das Bild Europas als Zentrum des internationalen Terrorismus ist.
Das Leid der Vergessenen
Das Interesse der Menschen in Europa ist hauptsächlich auf den eigenen Kontinent fokussiert. Auch bei Naturkatastrophen lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten, wie Journalistik-Professor Stephan Russ-Mohl in einem "Stern"-Interview erklärt.
Die Schäden und das Leid durch US-amerikanische Hurrikans fanden in Europa eine wesentlich höhere Anteilnahme, als die ungleich höheren Opferzahlen und Schäden durch den Monsun in Indien und Bangladesch.
Und auch im Westen ziehen Schäden in Houston, Miami oder New Orleans weit mehr Aufmerksamkeit auf sich als die Katastrophen in Mexiko und in der Karibik.
Es ist paradox, dass diejenigen Länder, die unter Naturkatastrophen und Terrorismus am meisten zu leiden haben, die geringste Aufmerksamkeit erfahren.
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