Immer wieder sind es Täter aus Zentralasien, die islamistische Anschläge verüben - so wie Saifulla Saipov, der Attentäter von New York. Seine Heimat Usbekistan gilt als "Brutstätte" für Terroristen. Doch so einfach ist es nicht.
Aufgefallen war Saifulla Saipov nie in seiner Heimat Usbekistan. Er stammt aus einer relativ wohlhabenden Familie, er studiert in Taschkent an einer der grossen Universitäten des Landes und arbeitet danach als Buchhalter in einem Hotel.
2010 gewinnt er in der Lotterie eine US-Green-Card und verlässt Usbekistan - als "moderater Muslim", wie die "New York Times" schreibt. Sieben Jahre später tötet Saipov in seiner neuen Heimat acht Menschen und bekennt sich zum "Islamischen Staat".
Sein grausames Attentat reiht sich ein in eine lange Liste von Anschlägen: Der Selbstmordanschlag im Juni 2106 in Istanbul, der Amoklauf in Istanbul in der Neujahrsnacht 2017, das Bombenattentat auf die Metro in St. Petersburg im April, der LKW-Anschlag in Stockholm wenige Tage später - sie alle wurden von Menschen verübt, die in Usbekistan oder Kirgisistan geboren wurden.
Ist Zentralasien also ein Hort des Terrors, wie nun oft zu lesen ist? Sicher ist, dass die Länder Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan, Kasachstan und Turkmenistan eine Rolle im globalen Dschihadismus spielen.
Rund 4.000 bis 6.000 Kämpfer des IS, je nach Schätzung, stammen aus Zentralasien, und die jüngsten Anschläge rücken Zentralasien in den Fokus der Öffentlichkeit.
Doch in den Herkunftsländern der Terroristen selbst hat es bislang praktisch keine Anschläge gegeben, gibt Beate Eschment vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin zu bedenken.
Im Gespräch mit diesem Portal erklärt die Zentralasien-Expertin, dass sie den radikalen Islamismus nicht als eines der vordringlichsten Probleme der Region betrachtet: "Da fällt mir viel ein, die nicht-demokratischen Herrschaftssysteme, die aktuelle Wirtschaftskrise, sogar der Drogenhandel. Aber der Islamismus kommt sehr weit hinten." Das soll nicht heissen, dass es gar kein Problem gibt - wie gross es ist, kann Eschment allerdings nicht mit Gewissheit sagen.
Anti-Terror-Kampf als Rechtfertigung für Autokraten
Islom Karimow, von 1991 bis zu seinem Tod im September 2016 Präsident, regierte das Land autoritär. Wie auch seine Amtskollegen in Zentralasien, verschrieb er sich dem Anti-Terror-Kampf in Zentralasien - allerdings fielen plötzlich auch sehr viele seiner politischen Gegner unter das Etikett "Islamist": "Menschenrechtsverletzungen wurden mit dem Anti-Terror-Kampf gerechtfertigt", sagt Eschment.
Stark sind die islamischen Gruppen in Zentralasien allerdings nicht, schreibt Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin in einem Aufsatz.
Zwar stammten zwei der 61 von den USA als islamistische Terrororganisationen bezeichneten Gruppen aus Zentralasien - sie agieren aber quasi aus dem afghanischen Exil. Halbach kommt deshalb zu einem klaren Urteil: "Zentralasien ist nicht als Brutstätte des Jihadismus hervorzuheben."
Ohnehin gilt für Saipov das, was auch für viele andere Attentäter aus Zentralasien gilt: Sie wurden nicht in ihrer Heimat radikalisiert.
Radikalisierung im Bauwagen
Zentralasien ist eine sehr arme Region, viele Menschen suchen Arbeit und ihr Glück in anderen Ländern, besonders in Russland. Rund jeder Vierte arbeitsfähige Kirgise verdient dort sein Geld, unter den schlechten Bedingungen, denen ausländische Arbeiter dort oft ausgesetzt sind.
"Sie arbeiten unter verheerenden Umständen, müssen mit der Fremdenfeindlichkeit zurechtkommen, sitzen aufeinander und sind dann ein gefundenes Fressen für Islamisten", sagt Beate Eschment.
Der Journalist Marcus Bensmann, der einige Jahre in Zentralasien lebte, hat das im "Deutschlandfunk" als "Radikalisierung im Bauwagen" bezeichnet: radikale Imame und Rattenfänger als Helfer gegen Einsamkeit und Entwurzelung.
Es gebe allerdings auch in Zentralasien eine Tendenz zur Radikalisierung, die sich aus einer "religiösen Sehnsucht" speise, besonders unter den Jungen. Sie erleben, wie der Staat repressiv auf alles reagiert, was nicht der offiziell postulierten Auslegung des Islam entspricht.
"Die Staaten definieren sich als säkular, der Islam ist aber Teil der nationalen Identität. Die Staatsführungen wollen bestimmen, wie der Islam zu leben ist - und wenn Menschen dem nicht folgen, heisst das nicht unbedingt, dass sie radikalisierte Islamisten sind", sagt Beate Eschment.
Kein Geld, keine Bildung, keine Hoffnung
Tatsächlich stellte eine russische Studie 2015 fest, dass der IS besonders für die post-sowjetischen Jahrgänge ab 1991 verlockend ist.
Zentralasien-Experte Arne C. Seifert schreibt in einem Paper für die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, sie seien in einer Zeit aufgewachsen, "die durch das Fehlen einer überzeugenden Staatsideologie, einem sinkenden Bildungsniveau, dem Zerbrechen sozialer Bindungen und Familien sowie einem Mangel an Arbeit, Geld und Möglichkeiten sozialen Aufstiegs gekennzeichnet ist."
Allerdings, so schreibt Seifert unter Bezugnahme auf eine Studie des Pew Research Centers von 2013, sei noch der moderate Islam in Zentralasien vorherrschend: Lediglich 28 Prozent der Befragten unterstützten eine politische Rolle religiöser Führer.
71 Prozent sehen keinen Widerspruch zwischen Islam und einer modernen Welt. 70 Prozent unterstützen ein Frauenrecht auf Scheidung, 73 Prozent die freie Wahl, sich zu verschleiern, 92 Prozent wollen volle Religionsfreiheit.
Die Ansichten Saipovs sind nicht genau bekannt, in einer umfangreichen Recherche zeichnete die "New York Times" allerdings das Bild eines nicht gerade gottesfürchtigen Menschen: Er fluchte viel, kam regelmässig zu spät zum Freitagsgebet und kannte den Koran nicht gut, sagten Muslime, die Saipov in den USA kennenlernten.
Radikalisiert hat er sich wahrscheinlich im Internet - über die Propaganda des IS. Ausschlaggebend dafür, zitiert die "Times" einen russischen Experten, könnte eine Art Einsamkeit gewesen sein.
Eine Reise in die Heimat sei zu teuer, die usbekische Community klein, deswegen zögen sich die Menschen oft auf die Religion zurück. "Sie suchen Kontakte in der muslimischen Szene und Online. Da ist das Risiko für eine Radikalisierung hoch."
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