Der Tessiner Ignazio Cassis ist neues Mitglied der Schweizer Regierung. Der 56-Jährige ist im Umgang äusserst angenehm und entsprechend beliebt. Politisch hingegen scheiden sich die Geister an dem überzeugten Liberalen. Ein Porträt.
Der Favorit machte das Rennen: Mit 125 von 244 gültigen Stimmen wurde Ignazio Cassis zum Bundesrat gewählt. Er erreichte bereits im zweiten Wahlgang das absolute Mehr.
An zweiter Stelle lag der Genfer Staatsrat Pierre Maudet mit 90 Stimmen. Nationalrätin Isabelle Moret erhielt 28 Stimmen. Cassis bedankte sich bei der Bundesversammlung auf allen vier Landessprachen - sogar auf Rätoromanisch.
"Herzlich, umgänglich, kommunikativ"
Offen und direkt: Der unkomplizierte Umgang mit dem Tessiner Politiker sind allgemein bekannt. "Herzlich, umgänglich, kommunikativ" sind Attribute, die ständig in einem Atemzug mit Cassis genannt werden. "Er ist ein Typ, mit dem man morgen in die Ferien fahren könnte", liess sich SVP-Nationalrat Adrian Amstutz zitieren.
Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) bescheinigt dem Tessiner eine "Harmoniebedürftigkeit", die vielleicht sogar zu ausgeprägt sein könnte, weil dies allenfalls einen Mangel an Führungsfähigkeit bedeuten könnte. Und diese Fähigkeit brauche ein Bundesrat.
Cassis selbst nimmt all diese Beurteilungen über seine Person mit Philosophie. "Wie man es macht, ist es wohl falsch", sagt er. Wer zu stark führe, werde als Diktator kritisiert.
Feminin geprägtes Elternhaus
Aufgewachsen ist Cassis in Sessa, einer kleinen Gemeinde der Region Malcantone bei Lugano – nahe der italienischen Grenze. Sein Vater Gino war Landwirt, später Versicherungsagent. Ignazio wurde 1961 als drittes Kind geboren, nachdem bereits zwei Mädchen da waren.
"Mein Vater soll hupend durchs Dorf gefahren sein, um den ersten Jungen zu feiern", schreibt Cassis im Lebenslauf auf seiner Homepage. Noch eine jüngere Schwester folgte in diesem feminin geprägten Elternhaus.
Mit elf Jahren dann ein einschneidendes Ereignis: Er verlor den kleinen Finger an der rechten Hand an einem Geländer mit Eisenzacken und musste seine Hobbys wechseln. Trompete statt Klavier und Laufsport statt Kugelstossen. Geblieben ist bis heute seine Liebe zur Musik. Er singt nicht nur selbst als "Cantautore" zur Gitarre, sondern zeigt auch gerne seine Sammlung mit mehr als 1000 Schallplatten.
Politischer Späteinsteiger
Zur aktiven Politik stiess Cassis äusserst spät – mit 46 Jahren. Zwar sass er zehn Jahre lange im Gemeinderat seiner Wohngemeinde Montagnola, doch in die Kantonspolitik gelang er nie.
Dies lag auch daran, dass sein Amt als Kantonsarzt nicht mit einem politischen Amt für den Kanton vereinbar war.
Als seine Partei die FDP 2003 einen Kandidaten und möglichst einen Arzt für die nationalen Wahlen suchte, liess er sich aufstellen.
Er verpasste zwar den Einzug ins Bundesparlament, doch nach der Wahl von Laura Sadis 2007 in den Tessiner Regierungsrat rutschte er als erster Ersatzkandidat in Bern nach.
Cassis hatte in Zürich und Lausanne Medizin studierte, was erklärt, warum er neben seiner Muttersprache Italienisch auch fliessend Deutsch und Französisch spricht. Nach seiner Rückkehr ins Tessin spezialisierte er sich als Präventivmediziner. So führte er 1989 unter anderem die erste HIV-Sprechstunde durch. Als Kantonsarzt war er im sozialdemokratisch geführten Gesundheitsdepartement von Staatsrätin Patrizia Pesenti tätig.
Von links nach rechts gerückt
Tatsächlich befürwortete Cassis lange staatliche Interventionen; er sprach sich früh für das Rauchverbot in Kneipen genauso wie für ein Tabakwerbeverbot aus. Gesellschaftspolitisch ist er bis heute durchaus links-liberal. Er heisst die Legalisierung von Cannabis und Kokain gut und befürwortet auch Homo-Ehen.
Wirtschaftspolitisch ist er indes deutlich nach rechts gerutscht, fordert in Namen der Freiheit Eigenverantwortung und weniger Bürokratie.
Dies haben diverse Parlamentarier-Rankings aufgezeigt. "Ich verstehe viele Dossiers heute besser als früher", erklärt er diesen Shift.
Als "freisinnigen Musterschüler" bezeichnete ihn die linke Wochenzeitung WoZ. Und überhaupt ist Cassis den Linken ein Dorn im Auge. Die SP nimmt Cassis unter anderem wegen seines Widerstands gegen die jüngste Rentenreform ins Visier.
Zu Diskussionen führt insbesondere sein Mandat als Präsident des Krankenkassenverbandes Curafutura, einem Zusammenschlusss von vier grossen Krankenkassen, für das er 180‘000 Franken jährlich erhält.
Man wirft "Krankencassis" vor, einfach ein Lobbyist und Interessenvertreter der Krankenkassen zu sein. Die heftigen Angriffe setzten Cassis zu. "Man könnte meinen, Krankenkassen seien Terrorgruppen", replizierte er in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger.
Einkünfte transparent gemacht
Die Kritik an seinem Verdienst weist er zurück. Im Gegensatz zu anderen Parlamentariern, habe er alle seine Einkünfte offen gelegt. Rund 300‘000 Franken pro Jahr verdient er demnach mit seinen politischen und professionellen Ämtern.
Cassis kam zwar spät zur Bundespolitik, ist seither aber überaus aktiv. Dies zeigt die lange Liste der politischen Ämter, Kommissionsmandate und Positionen im Rahmen von Interessenbindungen, die er innehatte oder nach wie vor bekleidet.
Besonders wichtig ist natürlich die Übernahme der Präsidentschaft der FDP-Fraktion im Jahr 2015, wodurch sein politisches Gewicht auf Bundesebene deutlich zunahm. Zudem war er Präsident der einflussreichen Gesundheitskommission. © swissinfo.ch
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