Mit der Ernennung des Brexit-Kämpfers Boris Johnson zum Aussenminister hat die britische Premierministerin Theresa May viele Beobachter überrascht. Doch seine Ernennung könnte sich angesichts der schwierigen Verhandlungen mit der EU als ein echter Vorteil erweisen.

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Es klang zunächst wie in Witz und wurde von einigen Beobachtern mit Fassungslosigkeit aufgenommen: Die Entscheidung der neuen britischen Premierministerin Theresa May, ausgerechnet den Brexit-Gegner Boris Johnson als Aussenminister in ihr neues Kabinett zu berufen.

"Frau May wirkt schwächer durch eine solche Personalentscheidung", sagte der stellvertretende SPD-Chef Ralf Stegner und fügte süffisant hinzu, dass Johnson bisher nicht gerade als herausragender Diplomat in Erscheinung getreten sei.

Zweifel an den Fähigkeiten der neuen Premierministerin

"Jetzt verhandelt er den Brexit. Gute Reise!", mokierte sich Stegner. Auch bei den Grünen zeigte man sich entsetzt über die Wahl. Johnsons Nominierung "ist ein sehr schlechtes Signal für den Austrittsprozess und lässt Zweifel an den Fähigkeiten der neuen Premierministerin aufkommen", sagte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter. Jetzt werde Johnson weiter "sein launenhaftes Unwesen treiben", was kein gutes Signal für die Zusammenarbeit der Europäer mit Grossbritannien sei, fügte Parteichefin Simone Peter hinzu.

Tatsächlich erscheint die Wahl des prominenten Brexit-Befürworters zunächst wie ein ungewöhnlicher Schachzug. Schon in seiner Zeit als Londoner Bürgermeister hatte der Mann mit den strubbeligen, blonden Haaren vor allem durch kalkulierte Provokationen und

öffentlichkeitswirksame Inszenierungen auf sich aufmerksam gemacht.

"Das Leben und die Seele jeder Party"

Ob er auf die Brexit-Initiative nur zur Steigerung der eigenen Popularität aufgesprungen ist oder wirklich den EU-Austritt wollte, weiss niemand. Richtig ist, dass Johnson angesichts seines eigenen Erfolgs selbst erschüttert schien - und direkt nach der Brexit-Abstimmung überraschend seine Ambitionen auf das Amt das Premierministers aufgab.

Zum Glück, sagte die britische Energieministerin Amber Rudd damals und bezeichnete Johnson öffentlich als "Bruder Leichtfuss". Der sei das "Leben und die Seele jeder Party. Aber nicht der Mann, von dem man am Ende des Abends nach Hause gefahren werden möchte".

Wird Johnson jetzt mit der EU verhandeln?

Dass ausgerechnet dieser "Tausendsassa" (Welt) zum britischen Chef-Diplomaten befördert werden soll, erscheint tatsächlich kurios - allerdings nur auf den ersten Blick. Denn bei näherer Betrachtung könnte sich Johnsons Ernennung nach Ansicht vieler Beobachter als äusserst cleverer Schachzug erweisen. Denn wer jetzt glaubt, ausgerechnet der unstete Johnson würde ab sofort mit den EU-Staatschefs über den Austritt Grossbritanniens verhandeln, irrt.

Für diese historische Aufgabe hat May mit David Davis eigens einen Europaminister ernannt, der mit Rückendeckung eines neu geschaffenen Ministeriums in die schwierigen Verhandlungen ziehen wird. Hinzu soll noch ein Minister für Internationale Handelsbeziehungen kommen. Für beides wird Johnson also gar nicht zuständig sein.

Aussenminister ohne Aufgaben?

Boris Johnsons überraschende Ernennung zum Aussenminister sei folglich in Wahrheit so etwas wie die Zerstückelung des Aussenministeriums, schreibt die englische Tageszeitung "The Guardian". Dieses könnte sich letztlich als ein ziemlich unwichtiges Ministerium in der Regierung May entpuppen, heisst es weiter. Und genau deshalb könnte sich der flatterhafte Johnson auf diesem Posten als sehr nützlich erweisen.

Die Arbeit des Aussenministers würde sich künftig "weitgehend auf das beschränken, was [Boris Johnson, Anm. d. Red.] am besten kann: Andere für sich einzunehmen", schreibt Eva Ladipo in der "Welt". Für die politische Journalistin ist seine Ernennung "keine absurde Wahl". Im Gegenteil: Durch die Einbindung Johnsons verhindere die "clevere May", dass dieser künftig aus dem Hintergrund ihre Brexit-Politik kritisiert.

So stelle sie den Mann einerseits ruhig - und profitiere andererseits von seiner immer noch grossen Popularität. "Besser einen gnadenlosen Populisten einfangen, unter Kontrolle kriegen", betont auch die ARD-London-Korrespondentin Hanni Hüsch in einem Gespräch mit dem Morgenmagazin. Es sei May ganz offensichtlich darum gegangen, die Brexit-Befürworter mit in das neue Kabinett einzubeziehen.

Mays kluger Schachzug

Tatsächlich könnte sich die Ernennung Johnsons für May als vorausschauender Schachzug erweisen. Denn in die Verhandlungen mit der EU tritt die neue Premierministerin mit zwei Positionen, die nach Ansicht vieler Experten miteinander nicht kompatibel sind.

May könnte ahnen, dass es zwischen dem Wunsch der Briten nach einem Zugang zum Binnenmarkt und der gleichzeitigen Forderung nach weniger Zuwanderung aus der EU nur einen Kompromiss geben kann, der viele Menschen enttäuschen dürfte. Indem sie mit Johnson und dem designierten Europa-Minister Davis gleich zwei prominente Brexit-Befürworter in die Verantwortung ruft, beugt sie späteren Protesten aus dem Austrittslager schon heute vor.

Denn wer mitverhandelt muss sich den Realitäten stellen - und kann sich hinterher kaum beschweren. Damit schafft sie sich selbst politischen Spielraum für mögliche Kompromisse, mit denen auch die EU-Vertreter leben können.

Die Ernennung von Boris Johnson könnte so gesehen sogar für überzeugte Europa-Politiker noch ihr Gutes haben.

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