Marode Atomkraftwerke wie Tihange, Doel und Fessenheim nahe deutscher Grenzen stehen seit Jahren in der Kritik. Nun wurde bekannt: Katastrophen-Vorboten, sogenannte Precursors, häufen sich in Tihange 1. Zudem gibt es Risse im Druckbehälter von Reaktor 2. Experten und deutsche Politiker schlagen Alarm.
Wird es in Europa zu einer Atomkatastrophe wie in Fukushima kommen? Die Zeichen verdichten sich, dass das belgische Atomkraftwerk Tihange nahe der deutschen Grenze mittlerweile ein "unbeherrschbares Problem darstellt". Zu diesem Schluss kommen Experten wie Professor Manfred Mertins, langjähriger Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit.
Sicherheitskonzept ungenügend
Dafür gibt es besorgniserregende Gründe. Zum einen wurde Tihange, das bei Huy (Provinz Lüttich) liegt, nach einem Sicherheitskonzept von 1970 erbaut. Das Atomkraftwerk (AKW) wurde 1975 in Betrieb genommen und entspreche Mertins zufolge den heutigen Sicherheitsstandards nicht. "Vor allem hinsichtlich möglicher Einwirkungen von aussen wie Erdbeben, Überflutung oder Flugzeugabsturz hat sich das Sicherheitskonzept völlig überlebt", sagt der Experte.
Und eine Anpassung sei nicht möglich. "Ich halte nichts von diesem Geschwafel von Nachrüstung so alter AKWs wie Tihange 1. Selbst dann würde Tihange 1 nicht den aktuellen Sicherheitsanforderungen genügen."
Ausserdem sei die Anlage nicht nachrüstbar, weil sie über eine intensive Betonstruktur verfügt. Im Grunde, so Mertins, müsste die Anlage neu gebaut werden.
Besorgniserregend sind auch die Berichte über Zwischenfälle im ersten Block (Tihange 1). Der WDR hatte unter anderem mit Bezug auf ein Schreiben der Brüsseler Atomaufsicht gemeldet, dass es zwischen 2013 und 2015 in Tihange insgesamt 14 sogenannte Precursor-Fälle gab. Mehr als die Hälfte sollen Tihange 1 betroffen haben.
Vorboten für Katastrophe häufen sich
Bei Precursors handelt es sich um Vorläufer, die auf drohendes Unheil hinweisen können. "Katastrophen kündigen vorher sich an", erklärt Mertins. Tschernobyl sei "ein solcher Klassiker", bei dem man den Vorläufer nicht ernst genommen und daher keine Precursor-Analyse erstellt habe.
Mertins zufolge hätte eine solche Katastrophe verhindert werden können. Denn: In einer Precursor-Analyse sei ersichtlich, "wie sich im Verfahrensablauf bestimmte Situationen entwickeln". Precursors sind Mertins zufolge also als Indikator für den Sicherheitszustand eines Atomkraftwerkes zu bewerten.
Risse im Reaktordruckbehälter
Ein veraltetes Sicherheitskonzept und gehäufte Precursors sind nicht die einzigen Probleme, die Tihange hat. Sehr besorgt zeigt sich Mertins über den Zustand von Tihange 2.
2012 meldete die belgische Atomaufsichtsbehörde (FANC), dass bei Routineinspektionen Risse in dem Reaktordruckbehälter von Tihange 2 entdeckt wurden. 1.931 Schadstellen betrafen laut einer Studie des Wiener Institutes für Sicherheits- und Risikowissenschaften (IRS) den oberen Teil des Kernrings und 80 Schadstellen den unteren Teil des Kernrings.
Daraufhin wurde der Reaktor heruntergefahren. Allerdings erlaubte die FANC im Jahr 2016 das Wiederhochfahren. Für Mertins unverständlich: "Aus der sicherheitsrelevanten Perspektive lässt sich feststellen, dass Schäden am Reaktordruckbehälter mit der Konsequenz dessen Versagens nicht beherrschbar sind."
Mertins ist verwundert darüber, dass sich immer wieder Experten finden, die zu anderen Bewertungen kommen. "Es verbietet sich überhaupt über die Zulässigkeit von Rissen in einem Reaktordruckbehälter zu diskutieren. Eigentlich müsste jedem klar sein, dass Tihange 2 abgestellt werden muss."
Situation nicht beherrschbar
Ähnliches gilt demnach auch für Doel 3 bei Antwerpen, das wegen tausender Haarrisse in den Reaktordruckbehältern im Mittelpunkt steht. Man müsse sich bei Zweifeln immer für die Sicherheit entscheiden, betont Mertins.
"Wenn ein Reaktordruckbehälter zu Bruch geht, ist die Situation nicht mehr beherrschbar. Der Kern könnte nicht mehr gekühlt werden. Wir würden eine Kernschmelze erleben", warnt Experte Mertins.
Zu dieser Einschätzung kommen auch die Wiener Wissenschaftler der IRS-Studie. Ohne Kühlung könne ein Kernschaden sehr bald nach dem Versagen des Behälters erwartet werden.
"Für den Fall eines grossen Kühlmittelverluststörfalls (LOCA) ergeben aktuelle Berechnungen eine Kernschmelze nach 20 bis 30 Minuten."
Das würde zu einer Verstrahlung grosser Flächen in Mitteleuropa führen. "Was die Konsequenzen betrifft, lässt sich das mit Fukushima vergleichen. Ungekühlter Brennstoff hätte freien Zugang zur Atmosphäre." Grosse Mengen an Iod, Cäsium, Tellur, Strontium und Ruthenium würden freigesetzt.
Mertins Einschätzung zufolge könne hinsichtlich des Gefahrenpotentials zwischen Tihange 1 und 2 nicht wirklich unterschieden werden. Allerdings sei Tihange 2 sicherheitstechnisch besser ausgelegt. Auch die Anlage in Fessenheim, eine der ältesten der Welt, dürfe bei der Diskussion um die Stilllegung maroder AKWs nicht vergessen werden. Sie sei konzeptionell mit Tihange 1 zu vergleichen.
Das würde ein Gau bedeuten
In der Aachener Region ist die Sorge vor einem Atomunfall in Belgien sehr gross. Bei einem Nuklearunfall wären zehntausende Menschen betroffen. Laut Wiener IRS-Studie sei die Wahrscheinlichkeit einer hoch dosierten radioaktiven Belastung von Aachen und Umgebung viel höher als die des belgischen Küstengebietes.
Für ihre Berechnungen zogen die Experten die dortigen Wetterverhältnisse mit ein. Es ist demnach zu befürchten, dass Aachen bei üblichen Verhältnissen so stark getroffen sein würde wie Orte in der unbewohnbaren 20-Kilometer-Zone um Fukushima.
Auch Städte wie Lüttich (Belgien) und Maastricht (Niederlande) würden von der Wolke erreicht – ebenso Düsseldorf und Köln (20 Prozent und mehr Wahrscheinlichkeit), Dortmund (zehn Prozent und mehr) und Frankfurt am Main (acht Prozent und mehr). "Die Aachener Zeitung" hat dies grafisch veranschaulicht.
Katrastrophenhilfe mangelhaft
Ein Unfall in dem nur 80 Kilometer von Rheinland-Pfalz entfernten Reaktor "hätte nicht nur eine Strahlenbelastung der Menschen, sondern auch die radioaktive Kontaminierung von Boden, Wasser und Nahrungsmitteln in der gesamten Region zur Folge", warnt die rheinland-pfälzische Umweltministerin Ulrike Höfken.
Besonders problematisch: Bei einem schweren Nuklearunfall würde die Katastrophenhilfe in der Grenzregion nach einer neuen Studie nicht gut funktionieren.
Deutschland, Belgien und die Niederlande seien auf ein solches Reaktorunglück nicht gut vorbereitet, warnte der niederländische Untersuchungsrat für Sicherheit in einem im Januar in Den Haag vorgelegten Report.
"Der Untersuchungsrat stellt fest, dass die Zusammenarbeit auf Papier zum Teil geregelt ist, aber wahrscheinlich nicht gut verlaufen wird, wenn tatsächlich ein Nuklearunglück geschieht", sagte der Vorsitzende des Untersuchungsrates, Tjibbe Joustra, der Deutschen Presse-Agentur.
So ergreifen etwa alle drei Länder unterschiedliche Massnahmen, um Bürger vor Strahlungen zu schützen. Und so könnte es passieren, dass Deutschland ein weitaus grösseres Gebiet evakuiert als Belgien, oder dass ein Land mehr Jod-Pillen verteilt als das andere. "Um Panik und Unruhe zu verhindern, müssen Bürger klar und eindeutig informiert werden", forderte der Vorsitzende Joustra.
Völlig unklar ist auch, wer im Notfall entscheidet. Und es gibt kaum gemeinsame Übungen. Das Bundesumweltministerium kündigte an, die Studie auf mögliche Verbesserungen beim Notfallschutz zu prüfen.
Das Ministerium dränge seit Jahren darauf, die Planungen in Europa besser anzugleichen. Zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gebe es einen guten Austausch mit den Nachbarländern.
Politiker beissen auf Granit
Auch Politiker und Kommunen fordern die vorzeitige Abschaltung von Tihange 2 und Doel 3 und strengten bereits mehrere Klagen an.
Ein Abschalten der Anlage selbst sei ein beherrschbarer Prozess, sagt Mertins. Der Experte gibt aber zu bedenken: "Solange der Brennstoff noch im Druckbehälter ist, muss das gesamte Sicherheitssystem in Betrieb sein, als wäre die Anlage noch in Betrieb". Deshalb sei es nach dem Abschalten wichtig, die Brennstäbe so schnell wie möglich aus dem AKW zu entfernen.
Nur: Die Abschaltung von Tihange liegt allein in der nationalen Zuständigkeit Belgiens. Noch aber stösst die wiederholte Forderung einer Stilllegung dort auf taube Ohren. "Das ist leider immer wieder das Problem mit grenznahen Anlagen", sagt Mertins.
Die belgische Seite machte nach Angaben des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers, Andreas Pinkwart (FDP), erneut klar, dass die beiden Blöcke wie im Atomausstieg geplant bis 2022 und 2023 in Betrieb bleiben sollen.
Am Freitag und Samstag nun kommen Wissenschaftler und Atomexperten aus aller Welt in Aachen zusammen, um weiter über das marode Atomkraftwerk Tihange zu beraten.
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