Kein Konflikt forderte im vergangenen Jahr so viele Tote wie der Bürgerkrieg in Äthiopien: mehr als 100.000 Menschen. Dennoch läuft die Konfliktlage im Land unter dem europäischen Radar. Inzwischen ist der Krieg offiziell beendet. Experte Gerrit Kurtz erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, warum uns die Situation auch hierzulande interessieren sollte.
Es war eine traurige Nachricht, die Ende Juni Schlagzeilen machte: Im vergangenen Jahr sind weltweit so viele Menschen durch Konflikte gestorben wie seit 30 Jahren nicht mehr – fast 240.000.
Doch anders als viele vermuten könnten: Es war nicht der Ukraine-Krieg, der die meisten Todesopfer forderte. Laut einem Bericht des "Institute for Economics and Peace" verloren im Ukraine-Krieg mindestens 82.000 Menschen ihr Leben – im Tigray-Konflikt in Äthiopien wurden dem Bericht zufolge 2022 mehr als 100.000 Menschen getötet. Hinzukommen mindestens doppelt so viele, die durch Krankheiten und Hunger infolge der Auseinandersetzungen starben.
Regierungswechsel führte zu Spannungen
Der Konflikt wurde ausgetragen zwischen äthiopischen und eritreischen Regierungstruppen auf der einen Seite und Rebellen der ehemaligen Regierungspartei TPLF (Tigray People's Liberation Front) auf der anderen Seite. Gerrit Kurtz von der "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) erklärt, worum es bei dem Konflikt geht: "2018 kam es in Äthiopien zu einem Regimewechsel von innen. Abiy Ahmed wurde in dessen Zuge Ministerpräsident. In der Folge verlor die TPLF zunehmend an Einfluss in Politik und Wirtschaft, was zu Spannungen mit der nationalen Regierung führte."
Der Konflikt sei dann im November 2020 ausgebrochen, als die TPLF in der Region Tigray Regionalwahlen organisiert habe, die von der Zentralregierung nicht genehmigt wurden. "Die Wahlen wurden nicht anerkannt und die Regierung in Tigray hat auch kein Geld mehr erhalten."
Hinzukam: Wegen der Corona-Pandemie verlegte die Regierung die nationalen Wahlen und blieb daher über ihr Mandat hinaus im Amt. "Die TPLF erkannte deshalb die Legitimität der Bundesregierung nicht mehr an. Das eskalierte so weit, dass es bis zum Krieg kam", sagt der Experte.
Mehr Todesopfer als der Kosovo-Krieg und der Konflikt in Mali zusammen
Ministerpräsident Abiy Ahmed habe sich zunehmend von der TPLF entfremdet und auf andere Gruppen in Äthiopien und auf eine Partnerschaft mit Eritrea gesetzt. "Dazu zählte auch eine Sicherheitskooperation, vor allem mit der Regionalregierung von Amhara", sagt Kurtz. Eritrea habe Zehntausende amharische Sicherheitskräfte ausgebildet, die später zusammen mit der äthiopischen Armee und Kräften aus Eritrea in Tigray interveniert hätten.
Der Krieg in Äthiopien forderte insgesamt mehr Todesopfer als beispielsweise der Kosovo-Krieg und der Konflikt in Mali zusammen. Kurtz weist aber auch darauf in: "Grundsätzlich sind Todesopferzahlen von bewaffneten Konflikten immer mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln, weil zum Beispiel der Zugang schlecht und auch sehr unterschiedlich ist."
So sei freie Berichterstattung in der nicht-besetzten Ukraine möglich, während es in Äthiopien zwei Jahre lang fast einen kompletten Telekommunikationsblackout für Tigray gegeben habe und sehr wenig Zugang für Berichterstattung. "Für den Krieg in Äthiopien geht man für die zwei Jahre insgesamt von rund 600.000 bis 800.000 Toten aus", sagt Kurtz.
Die hohe Zahl der Todesopfer in Äthiopien erklärt der Experte in zwei Dimensionen. Zum einen seien zwei oft konventionell agierende und gut ausgestattete Streitkräfte aufeinandergetroffen. "Die Führung der "Tigray Defence Forces" hatte viel Erfahrung, es war nicht ihr erster Krieg", sagt Kurtz.
Zahllose Opfer in der Zivilbevölkerung durch Hunger und medizinische Unterversorgung
Die Rebellen hätten direkt zu Beginn des Krieges viele schwere Waffen von den Streitkräften Äthiopiens erobert, die in der Region Tigray stationiert waren. "Beide Seiten haben wenig Rücksicht auf ihre eigenen Truppen genommen und Wellen an Infanterie über das Schlachtfeld geschickt", sagt Kurtz. Zehntausende von Kämpfern seien mit wenig Schutz und schlechter Ausbildung aufeinandergetroffen und ins Verderben geschickt worden.
Neben den hohen Opfern bei den militärischen Kriegsteilnehmern gebe es zum anderen eine hohe Zahl an Opfern in der Zivilbevölkerung, die durch Hunger und medizinische Unterversorgung gestorben seien und weiterhin sterben.
"Monatelang hat es eine humanitäre Blockade Tigrays durch die Zentralregierung gegeben. Tigray wurde von Aussengrenzen abgeschnitten, Handelsrouten unterbrochen und es gab keinen humanitären Zugang", erklärt der Experte. Landwirtschaftliche und medizinische Infrastruktur sei systematisch zerstört worden.
Wegen eines Nahrungsmittelskandals wurden die Hilfen der UN und USA eingestellt
Laut Zahlen des "World Food Programme" sind 20 Millionen Menschen in Äthiopien auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, auch wegen der massiven Dürre im Osten des Landes. Gleichzeitig kam in diesem Jahr ein Nahrungsmittelskandal ans Licht: Lokale und nationale Regierungsstellen sollen im grossen Stil Nahrungsmittelhilfen abgezweigt und weiterverkauft haben. "Das hat zur Einstellung der Nahrungsmittelhilfe der UN und USA geführt und die Situation weiter verschärft", erklärt Kurtz.
Die Lage beschreibt er weiterhin als fragil. "Der Krieg ist zu Ende, aber der Konflikt nicht." Seit dem Abkommen von Pretoria von November 2022 gebe es zwar keine bewaffneten Auseinandersetzungen mehr zwischen der TPLF und der Regierung, aber die Umsetzung des Abkommens komme nur schleppend voran.
"Es wurde zwar eine Übergangsregierung unter Führung der TPLF für Tigray gebildet, aber die TPLF wurde noch nicht als Partei für ganz Äthiopien wieder zugelassen. Die Wahlbehörde hat sich bislang dagegen ausgesprochen", sagt Kurtz.
Der Konflikt in Äthiopien erfährt kaum Aufmerksamkeit in Europa
Die Beziehungen zwischen den politischen Eliten und einigen Volksgruppen seien nach wie vor extrem angespannt. In einigen Regionen gebe es massive Kämpfe, unter anderem zwischen (anderen) Rebellen, Milizen und nationalen Sicherheitskräften. "Zum Teil gehen sie auch gegen die Zivilbevölkerung vor. Das führt noch immer zu Hunderten Toten", sagt der Experte.
Manche Konfliktlinien seien im Zuge des Friedensprozesses sogar noch verschärft worden. "Es führt beispielsweise zu Konflikten, dass regionale Sicherheitskräfte und informelle Milizen in Amhara entwaffnet werden sollen", sagt Kurtz.
Dass der Konflikt in Europa kaum Aufmerksamkeit erfährt, erkläre sich unter anderem mit dem Ukraine-Krieg, der im Fokus der Berichterstattung steht. Anders als der Konflikt in Äthiopien besteht hier eine grössere geografische und kulturelle Nähe.
Äthiopiens Bedeutung auch für Europa sollte nicht unterschätzt werden
"Deutschland und Europa sollten sich aber für den Konflikt interessieren", sagt er. Äthiopien sei das zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas und liege in einer durchaus strategischen Position. Das Land orientiere sich balancierend zwischen Russland, China und dem Westen.
"Äthiopien hatte vor dem Krieg eine sehr stark wachsende Wirtschaft. Diese wirtschaftliche Dimension ist gefährdet", sagt Kurtz. Deutschland sei einer der grössten humanitären Geber, Äthiopien einer der grössten Empfänger. Äthiopien sei ausserdem lange Jahre ein konstruktiver und von Europa gern gesehener Partner und Akteur für afrikanischen Frieden und Sicherheit gewesen, erläutert Kurtz.
"Es hat sich beispielsweise auch um Vermittlung in anderen Konflikten bemüht. Das geht jetzt nicht mehr. Die gesamte Region ist daher betroffen", sagt er. Eine Region, die beispielsweise auch durch den Krieg im Sudan und damit verbundenen Fluchtbewegungen massiv herausgefordert wird. Auch hier hat es in diesem Jahr bereits Tausende Tote gegeben.
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