Mit Nazi-Vergleichen und anderen wüsten Beschimpfungen hat Recep Tayyip Erdoğan in Europa monatelang für Empörung gesorgt. Seit dem Verfassungsreferundum ist es ruhiger geworden um den türkischen Staatschef. Grund zur Erleichterung - oder zur Sorge vor einem klammheimlichen Umbau der Türkei zur Diktatur?

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Der türkische Staatschef poltert kaum noch, seit sich beim Referendum am 17. April die Mehrheit der Wähler für das Präsidialsystem ausgesprochen hat, das Recip Tayyip Erdoğan künftig deutlich mehr Macht ermöglichen soll.

Eine trügerische Ruhe? Was führt Erdoğan im Schilde? Fragen an den Türkei-Experten Ludwig Schulz vom Deutschen Orient-Institut.

Herr Schulz, in den vergangenen Wochen ist es vergleichsweise ruhig geworden um Erdoğan. Hat er plötzlich die Lust an der Provokation verloren?

Ludwig Schulz: Im Vorfeld des Verfassungsreferendums hatten Präsident Erdoğan und die AKP-Führung erkannt, dass sie vor allem an den türkischen Nationalismus appellieren müssen, um eine Mehrheit zu erhalten.

Die Streitigkeiten mit den Europäern um Wahlkampfauftritte kamen da wie gerufen.

Erdoğan konnte den Europäern täglich eine feindliche Haltung gegenüber der Türkei vorwerfen und so die Logik entwickeln, dass die Türkei zur Verteidigung eine starke Führung benötigt.

Die Kalkulation ging auf, das Präsidialsystem wird eingeführt. Jetzt kann er zum Tagesgeschäft übergehen, auch wenn das Verhältnis zu Europa nachhaltig gestört ist.

Europa - ein gutes Stichwort. Am heutigen Donnerstag trifft Erdoğan die EU-Repräsentanten Jean-Claude Juncker und Donald Tusk. Es soll um die Zollunion gehen, die für die Türkei extrem wichtig ist. Hat er nur deshalb zuletzt nicht mehr gegen Europa geschossen?

Die türkische Führung weiss, dass die Wirtschaftsbeziehungen nach Europa von essenzieller Bedeutung sind.

Sie versucht stets, Investoren davon zu überzeugen, dass das Land trotz Terror, Putschversuch und Staatsumbau attraktiv ist und entsprechend werbend reisen Erdoğan und die AKP-Minister nun auch nach Brüssel.

Die türkische Wirtschaft und der Arbeitsmarkt brauchen dringend Impulse, um aus der Krise zu kommen. Doch es gibt noch viel zu regeln.

Zum Beispiel?

Damit sich die EU auf eine Reform der Zollunion von 1996 einlässt, müsste die Türkei einige Felder für europäische Bewerber öffnen, so etwa die öffentlichen Ausschreibungen.

Doch die Transparenzvorgaben der EU lassen sich kaum mit klientelistischen Praktiken, wie sie in der Türkei zunehmend auftreten, vereinbaren.

Anders als aussenpolitisch kann Erdoğan jetzt innenpolitisch schalten und walten wie es ihm beliebt, oder?

Erdoğan hat bekommen, was er wollte. Entsprechend der Verfassungsänderungen konnte er nun wieder Mitglied der von ihm gegründeten und lange Zeit von ihm geführten Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) werden.

Zuletzt liess er sich auch wieder zum Vorsitzenden der Partei wählen.

Weil die AKP zugleich die Mehrheit im Parlament stellt und in der Türkei die Parteidisziplin, also die widerspruchslose Loyalität der Mitglieder zur Parteiführung sehr stark ausgeprägt ist, ist die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative faktisch aufgehoben.

Der Präsident führt die Regierungspartei und die Regierung, obwohl beides laut Verfassung getrennt sein müsste.

Es geht nun also darum, die Verfassungsänderungen bis zum Superwahljahr 2019, wenn Parlament und Präsident neu bestimmt werden, umzusetzen.

Bis dahin werden Erdoğan und die AKP die Macht weiterhin zentralisieren, damit die Wiederwahl nicht gefährdet wird.

Etwa, indem er die AKP und die öffentliche Verwaltung mit Getreuen gleichschaltet?

Der Begriff Gleichschaltung weckt bei uns stets Vergleiche an totalitäre Systeme, wie etwa Nazi-Deutschland oder Nordkorea. So schlimm ist die Lage in der Türkei bei weitem nicht.

Dass die AKP in 15 Regierungsjahren immer mehr Leute in den Staatsdienst – von Verwaltung über Justiz bis Medien – gebracht hat, die der Partei loyal gegenüberstehen, überrascht nicht.

Allerdings: Seit dem Putschversuch vom Juli gibt es eine massive Säuberung staatlicher Institutionen von tatsächlichen und vermeintlichen Putschbefürwortern und Kritikern. Das führt zu deutlichen Effizienzproblemen.

Mit anderen Worten: Oftmals müssen nun beruflich Unerfahrene und weniger gut Ausgebildete die Arbeit machen, was gerade in der Justiz ein grosses Problem darstellt.

Bei der Wahl zum AKP-Chef hat Erdoğan 96 Prozent der Stimmen erhalten – das ist viel, aber nicht alles. Wie geht er mit Gegnern in den eigenen Reihen um?

Die Kritiker haben es nicht leicht in der Partei und dürften weiter marginalisiert werden. Unterm Strich fallen sie aber nicht ins Gewicht.

Dem Präsidenten kommt es sogar entgegen, dass er nicht 100 Prozent erhielt – so kann er argumentieren, dass die AKP weiterhin Meinungs- und Wahlfreiheit garantiert.

Wie ist die Situation von Journalisten und Oppositionellen?

In kaum einem anderen Land der Welt sind so viele Journalisten in Haft wie in der Türkei, oftmals – ebenso wie Oppositionelle und Regierungskritiker – ohne Anklage und unter menschenrechtswidrigen Bedingungen.

Ihnen wird meist Unterstützung von Terrorismus und Separatismus vorgeworfen, obwohl sie weder Gewalt eingesetzt oder dafür plädiert haben, noch Terrorgruppierungen nahestanden.

Die Türkei, die ja formal immer noch als EU-Beitrittskandidat gilt und Mitglied westlicher Organisationen wie der NATO, des Europarats und der OSZE ist, muss dringend wieder die Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit einhalten und eine normale Oppositionsarbeit zulassen.

Die Regierung muss zudem – trotz aller Bedrohungen, der sich das Land ausgesetzt sieht, das Antiterrorgesetz präzisieren, um den weiteren Missbrauch zu unterbinden.

Auch von einer mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe war zuletzt seltener die Rede. Warum?

Ich denke, dass Erdoğan zunächst einmal genug von Volksbefragungen hat, wie er sie auch für den Fall der Wiedereinführung der Todesstrafe angekündigt hat.

Das letzte Referendum gewann er nur knapp - eine Niederlage würde ihn sehr schmerzen.

Ludwig Schulz ist Türkeiexperte am Centrum für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München und für das Deutsche Orient-Institut in Berlin tätig. Er ist ferner Mitglied des Vorstands der Middle East and International Affairs Research Group (MEIA Research) und des Netzwerks Türkei e.V.
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