In Kanada hat Premier Trudeau seinen Rücktritt angekündigt, die Kanadier scheinen seinen progressiven Weg nicht mehr mitgehen zu wollen. Was aber will Trudeaus wahrscheinlichster Nachfolger in Kanada ändern?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Adrian Arab sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist nicht übertrieben, an diesem kalten Januarmorgen vom Ende einer Ära in Kanada zu sprechen. Eingehüllt in einen langen schwarzen Mantel, Atemwolken vor dem Gesicht und mit einer roten Nase, verkündete der kanadische Premierminister Justin Trudeau seinen Rücktritt. "Ich werde als Premierminister und Parteivorsitzender zurücktreten, sobald die Partei einen neuen Vorsitzenden in einem soliden, landesweiten Auswahlverfahren bestimmt hat", erklärte der sichtlich bewegte 53-Jährige vor dem Rideau Cottage in Ottawa, wo er mit seiner Familie lebt.

Mehr aktuelle News

Kanada verdiene eine echte Wahl, und ihm sei klar geworden, dass er "nicht die beste Option bei dieser Wahl" sei, wenn er "interne Konflikte austragen" müsse. Über die Feiertage habe er "lange Gespräche" mit seiner Familie geführt und am Abend vor der Ankündigung die Entscheidung seinen Kindern mitgeteilt.

Mit dieser Erklärung endete eine aussergewöhnliche Karriere, die vor knapp zehn Jahren als politisches Märchen begann, die in den letzten Monaten aber zunehmend weniger märchenhaft war. Zwölf Jahre lang hatte Trudeau die Liberale Partei angeführt, die er 2013 in einer schwierigen Phase übernommen hatte. Seit 2015 regierte er als Premierminister. In dieser Zeit bewies er mehrfach, dass er politische Krisen meistern und sich aus scheinbar ausweglosen Situationen befreien konnte.

Dazu zählten politische Skandale wie die verkorkste Einführung einer CO2-Steuer und persönliche Affären wie kostenlose Urlaube auf Privatinseln oder Blackfacing-Vorwürfe, die er stets mit einem blauen Auge überstand. Zwei Misstrauensvoten sowie eine Revolte mehrerer Abgeordneter seiner Partei waren nun der sprichwörtliche letzte Tropfen.

Trudeau verstand sich als Vertreter des progressiven Westens

Für Trudeau, der sich als besonders engagierter Vertreter des progressiven, liberalen Westens versteht, dürfte der Zeitpunkt seines Rücktritts besonders bitter sein. Er fällt zusammen mit der Rückkehr Donald Trumps, der sowohl vom Auftreten her als auch politisch der wohl grösstmögliche Gegensatz zu Trudeau ist, den die westliche Welt zu bieten hat.

Dazu kommt, dass Trump nicht ganz unbeteiligt an Trudeaus Karriereende ist. Denn seine Drohung, hohe Zölle auf kanadische Importe zu erheben, löste eine Regierungskrise aus, die letztlich Trudeaus Rücktritt beschleunigte. Die angedrohten 25-Prozent-Zölle wären für Kanada, dessen Exporte zu 75 Prozent in die USA gehen, ein wirtschaftliches Desaster.

Finanzministerin Chrystia Freeland, eine enge Vertraute Trudeaus, drängte daher auf Haushaltsdisziplin und die Rücknahme einer bereits zugesagten Steuersenkung. Kanada müsse auf "teure politische Spielereien" verzichten, sagte Freeland und knüpfte ihren Verbleib in der Regierung an diese Frage. Als Trudeau nicht einlenkte, trat Freeland kurz vor Weihnachten zurück und sparte nicht mit Kritik. Diese Aussagen einer so hochrangigen Ministerin in Kombination mit desolaten Umfragewerten, laut denen die Liberalen weit hinter der konservativen Partei liegen, lösten dann jene Schockwellen aus, die Trudeau politisch nicht überlebte.

Trudeaus immer mehr schwindende Popularität über die letzten Jahre spiegelt eine tiefere Veränderung in der politischen Stimmung wider und lässt sich als Teil einer globalen Verschiebung verstehen, wie sie derzeit in vielen westlichen Ländern stattfindet. Als Trudeau 2015 an die Macht kam, erholten sich die Kanadier gerade von der Finanzkrise.

Trudeau, der sich einst mit seiner Frau in der Modezeitschrift "Vogue" ablichten liess, setzte Themen wie Einwanderung, Gleichberechtigung und Klimaschutz auf die Tagesordnung und wurde damit das Gesicht eines fortschrittlichen und feministischen Kanadas. Sein wichtigstes Werkzeug dabei vor allem: Seine eigene Beliebtheit über die Landesgrenzen hinaus, die in den ersten Jahren seiner Amtszeit bei den Kanadiern eine regelrechte Euphorie auslöste.

Steigende Lebenshaltungskosten, wirtschaftliche Stagnation und der zunehmende Frust über ein als ineffizient empfundenes Einwanderungssystem erzeugten bei vielen Kanadiern jedoch in den letzten Jahren zunehmend den Eindruck, dass Trudeau sein progressives Gebaren über die politische Substanz stellte.

Kanadier sind unzufrieden mit ihrer Regierung

Denn ähnlich wie in Europa spüren viele Kanadier spätestens seit der Coronakrise die stark gestiegenen Wohn- und Lebensmittelkosten deutlich. Gleichzeitig sorgt das schwache Wirtschaftswachstum für das weitverbreitete Gefühl, Kanada gerate wirtschaftlich gegenüber den USA ins Hintertreffen. Auch der deutliche Anstieg der Einwanderung, die lange Zeit als positiv wahrgenommen wurde und zu den zentralen Themen Trudeaus gehörte, ist von Euphorie in Frust umgeschlagen angesichts von Wohnungsmangel und einem als unzureichend empfundenen Management des Migrationssystems.

Erstmals seit 25 Jahren findet laut "Environics Institute" eine Mehrheit der Kanadier, dass das Land zu viele Einwanderer aufnimmt. Damit hat sich die Stimmung unter den Kanadiern in den zehn Jahren von Trudeaus Amtszeit massiv verändert. Trudeau selbst, der bei seinen jüngsten Wahlauftritten weiterhin über Themen wie Klimawandel und Genderpolitik sprach, hat sich dagegen nicht verändert, er blieb seinen Themen treu. Dies zeigte sich zuletzt in einem regelrechten Absturz in den Umfragen, etwa bei einer Nachwahl in ehemaligen Hochburgen der Liberalen Partei, die Trudeau haushoch verlor, etwa in LaSalle-Émard-Verdun in Montreal.

Von Trudeaus Stimmenverlusten profitiert vor allem die Konservative Partei unter ihrem charismatischen Vorsitzenden Pierre Poilievre. Der 45-jährige Wirtschaftsliberale mit kerniger Stimme, oft als "weicher Populist" bezeichnet, hat gute Chancen, bei vorgezogenen Neuwahlen im Frühjahr das Amt des Premierministers zu übernehmen. Umfragen sehen die Konservativen mit bis zu 20 Prozentpunkten vor den Liberalen, Prognoseplattformen wie Polymarket taxieren Poilievres Siegchancen sogar auf bis zu 85 Prozent.

Poilievre wird Trudeaus Initiativen abräumen

Pierre Poilievre
Pierre Poilievre könnte auf Justin Trudeau folgen. © IMAGO/ZUMA Press/Adrian Wyld

Poilievre, der seit seinem 26. Lebensjahr von der Politik lebt, ist ein klassischer Wirtschaftsliberaler: Er steht laut "Axios" für radikale Steuerkürzungen, einen schlanken Staat und die Abschaffung zahlreicher sozialpolitischer Programme Trudeaus, darunter die kostenlose zahnärztliche Versorgung. Kurzum: Einen weniger interventionistischen Staat.

Eine "woke" Kulturpolitik lehnt er ab, bei Themen wie Abtreibung und der gleichgeschlechtlichen Ehe hat er ehemals stark konservative Positionen inzwischen aber abgemildert. Trudeaus Politik hat Poilievre laut "CBC" einmal als "extrem radikale Ideologie" bezeichnet, auch in sozialen Medien geht er seinen politischen Gegner mitunter scharf an. Vieles spricht dafür, dass er das meiste von Trudeaus progressiven Initiativen abwickeln wird. Poilievre wird durch seine provokanten Zuspitzungen von Beobachtern gerne mit Donald Trump verglichen. Tatsächlich ist ihm, ähnlich wie Trump, eine gewisse Weinerlichkeit im Umgang mit den Medien eigen sowie der Hang, politische Gegner mit markigen Kampfbegriffen zu überziehen. Hinzu kommt, dass sich auch Elon Musk bereits öffentlich als Fan geoutet hat.

Inhaltlich gibt es zwischen ihm und Trump jedoch teils gewaltige Unterschiede. Poilievre ist ein kompromissloser Unterstützer der Ukraine und vertritt in Fragen des Klimawandels sowie bei Rechten von LGBTQ+-Personen deutlich progressivere Positionen als Trump. Und auch dessen Idee, Kanada zum 51. Bundesstaat der USA zu machen, erteilte er laut "Telegraph" bereits eine eindeutige Absage. Deutlich konservativer würde Kanada unter einem Premier Poilievre trotzdem werden.

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.