Ungeachtet der Spannungen mit dem Westen drängt Präsident Recep Tayyip Erdogan weiter auf einen EU-Beitritt der Türkei. Doch dafür müsste sich einiges drastisch ändern.

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"Die türkische Regierung will der EU vor dem Jahr 2023 beitreten." Das sagte der türkische EU-Botschafter Selim Yenel jüngst im Gespräch mit der "Welt". Langfristig sei es für die Türkei "nicht akzeptabel, nicht zur EU zu gehören".

Jedoch: Realistisch betrachtet, ist das Land mit seinen knapp 79 Millionen Einwohnern so weit weg von einer EU-Mitgliedschaft wie lange nicht. Die Bedenken sind nicht zuletzt wegen der "Säuberungen" nach dem gescheiterten Putsch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan enorm.

Fünf Themen, die die Türkei dringend angehen müsste, um ihr Ziel zu erreichen.

1. Pressefreiheit vollumfänglich garantieren

Kritische Journalisten zu drangsalieren, gehört in der Türkei zum Alltag. Spektakulär ist der Fall des Chefredakteurs der Tageszeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, und dessen Hauptstadtbüroleiters Erdem Gül wegen des Vorwurfs der angeblichen Spionage, Verbreitung von Staatsgeheimnissen und Unterstützung einer terroristischen Organisation.

Dündar muss einem ersten Urteil zufolge fünf Jahre und zehn Monate ins Gefängnis, Gül für fünf Jahre.

"Cumhuriyet" hatte Ende Mai 2015 Belege für eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien veröffentlicht, woraufhin Erdogan Dündar öffentlich drohte. Gültekin Avci, Mehmet Baransu, Özgür Amed, Hidayet Karaca, Mohammed Ismael Rasool, Murat Çapan, Cevheri Güven – auch diese Journalisten sitzen laut "Reporter ohne Grenzen" aktuell in Haft, mutmasslich, weil sie ihrer Arbeit regierungskritisch nachgingen.

Nach dem Putschversuch ist die Lage noch unübersichtlich. Es ist wohl von weiteren Verhaftungen auszugehen.

2. Erdogan auf dem Weg in eine Autokratie stoppen

"Er versucht einen parteiübergreifenden nationalen Konsens herzustellen und diesen auf seine Person zu fokussieren", erklärt der Islamwissenschaftler und Türkei-Kenner Udo Steinbach jüngst im Gespräch mit unserer Redaktion.

"Die politischen Parteien sind unbedeutend geworden, er schreibt die politische Agenda. Das ist ein deutlicher Schritt hin zu einer autokratischen Herrschaft", so Steinbach. Erdogan lebe nach der Maxime: Der Staat, das bin ich. Dabei halte sich der 62-Jährige nicht mehr an die Verfassung, was für eine autokratische Herrschaft spreche. Steinbach: "Das Parlament ist weitgehend ausgeschaltet."

Fakt ist: Erdogan strebt ein stark präsidiales Regierungssystem an. Kritiker sagen, um eine Autokratie dahinter zu verschleiern. Aus Sicht der EU ist das nicht zu dulden.

3. Feindbild Deutschland wieder abbauen

"Die Bundesrepublik Deutschland ist für Erdogan das neue Feindbild", erklärt Steinbach. Was die Beziehung erheblich beeinträchtigte: Zum einen wurde ein Papier des Auswärtigen Amtes publik, welches die Türkei in Zusammenhang mit dem islamistischen Terror bringt; zweitens durfte Erdogan bei der spektakulären Grossdemonstration in Köln nicht per Videobotschaft zu seinen Anhängern sprechen.

Er liess daraufhin öffentlichkeitswirksam das Demokratieverständnis der Bundesrepublik in Frage stellen. Fakt ist: Deutschland ist das Zugpferd der EU, ihr grösster Geldgeber. Deswegen muss für Brüssel ein solches Feindbild inakzeptabel sein.

4. Todesstrafe verhindern

Die Türkei hatte die Todesstrafe erst 2002 im Zuge ihres Strebens nach einer EU-Mitgliedschaft abgeschafft. Erdogan kündigte nach dem Putsch nun an, die Regierung werde mit der Opposition über die Wiedereinführung der Todesstrafe beraten und eine Entscheidung treffen.

Die Antwort aus Berlin folgte prompt: "Deutschland und die EU haben eine klare Haltung: Wir lehnen die Todesstrafe kategorisch ab. Ein Land, das die Todesstrafe hat, kann nicht Mitglied der Europäischen Union sein", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Und weiter: "Die Einführung der Todesstrafe in der Türkei würde folglich das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen bedeuten."

5. Repression von Kurden einstellen

Millionen kurdischer Flüchtlinge – das fürchtet die EU. Im Südosten der Türkei bekämpfen sich militante kurdische Truppen und die türkische Armee.

Der Konflikt mit der kurdischen Minderheit reicht weit zurück. Kurzfristig rechnet der Vorsitzende der Kurden in Deutschland, Ali Toprak, mit Zehntausenden, langfristig mit Hunderttausenden Schutzsuchenden in Deutschland. Schon jetzt seien innerhalb der Türkei eine halbe Million Kurden auf der Flucht, schilderte er der "Welt".

Zwar hält sich Brüssel bedeckt, tatsächlich dürfte der EU aber wenig daran gelegen sein, so viele Menschen aufzunehmen. Die Türkei müsste den Konflikt mit den Kurden befrieden, um diesen ein faires Leben zu ermöglichen. Auch davon ist die Türkei aber - Stand heute - weit entfernt.

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