Er habe das Land vorwärts gebracht, sagen seine Anhänger. Er treibe es in den Ruin, sagen seine Gegner. Die Meinungen der türkischen Diaspora über Präsident Erdogan sind geteilt. Das zeigt ein Augenschein vor der Botschaft in Bern, wo Türkinnen und Türken in der Schweiz über ein neues Präsidialsystem in ihrem Herkunftsland abstimmen können.

Mehr aktuelle News

Rund 1500 Personen haben er und seine Kollegen in den letzten zweieinhalb Tagen gezählt, sagt der Botschaftsschützer der Kantonspolizei vor seinem Kontrollposten im Berner Diplomatenviertel. Gemeint sind Personen türkischer Staatsbürgerschaft, die das streng bewachte Botschaftsareal betreten durften, um an der Abstimmung über eine Verfassungsänderung teilzunehmen, die dem türkischen Präsidenten zusätzliche Macht einräumen würde.

Neben den Berner Polizeibeamten sorgen mehrere Uniformierte der Supreme Security AG für einen geordneten Ablauf des Urnengangs vor und hinter den dicken Metallschranken ums Botschaftsareal. Er sei nicht Türke, sondern Kosovare, verrät einer der privaten Sicherheitsleute. Seine Kollegin kommt aus Rumänien. Bisher sei alles friedlich und reibungslos verlaufen, sagen sie. Nach Rücksprache übers Funkgerät mit türkischen Diplomaten erlaubt er dem Reporter von "swissinfo.ch", das Botschaftsgelände kurz zu betreten und Fotos zu machen.

Um an der Abstimmung teilzunehmen, müssen sich die Stimmberechtigten am Eingang in einem grünen Bürocontainer ausweisen, bevor sie ihre Stimme in einem weissen Gartenzelt im Inneren des Areals in die Urne legen können. Es sei reibungslos abgelaufen, bestätigen alle Stimmenden, die an diesem Vormittag befragt werden – Befürworter und Gegner des Referendums. Sie sind aus fast allen Ecken der Schweiz angereist, mit Familie, Partner oder Partnerin, in kleinen Gruppen oder allein.

"Unser Ziel ist 2023"

Ein junger Mann mit Baseball-Mütze und Sonnenbrille gibt bereitwillig Auskunft: Geboren, aufgewachsen und gut integriert sei er hier, sagt er, aber seine Wurzeln habe er in der Türkei. Das wolle er nicht vergessen, obwohl er auch sein restliches Leben in der Schweiz verbringen werde.

Ob er Ja oder Nein gestimmt hat, will er nicht sagen, aber seine Worte verraten, dass er Erdogan unterstützt: "Ich habe für eine starke Türkei gestimmt. Unser Ziel ist 2023", sagt er mit ernster Miene, wohl in Anspielung auf den 100. Geburtstag der Türkei. Bis dahin will sich Präsident Recep Tayyip Erdogan als Vater eines neuen Staates inszenieren, der die Produktion ankurbelt und grosse Infrastrukturprojekte umgesetzt haben wird.

Als Anhänger des türkischen Präsidenten gibt sich auch ein junges Elternpaar zu erkennen: Erdogan habe das Land in den Jahren seiner Präsidentschaft vorwärts gebracht, sagen sie. "Wir wollen, dass es so weiter geht. Die Verfassungsänderung sorgt dafür, dass sich die anderen nicht immer einmischen." Dass Tausende Anwälte, Politiker, Lehrer und Journalisten nach dem gescheiterten Putsch entlassen oder sogar verhaftet wurden, habe seine Berechtigung. "Diese Leute haben nicht im Interesse der Türkei gehandelt und das Land am Fortschritt gehindert. Jetzt konnten sie entlarvt werden", glauben die jungen Eltern zu wissen, die perfekt Schweizerdeutsch sprechen, weil sie seit ihrer Geburt hier leben. Zu den Feinden des Regimes zählen sie die kurdische Arbeiterpartei PKK sowie Anhänger des muslimischen Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den gescheiterten Putsch vom Juli 2016 verantwortlich macht.

Drei Männer unterschiedlichen Alters verlassen das Botschaftsgelände gemeinsam, gefolgt von ebenso vielen Frauen mit Kopftüchern und knöchellangen Gewändern. Die Fragen des Journalisten beantwortet im Namen der ganzen Gruppe eine Frau, die von den anderen Şener genannt wird. Sie lebe seit 35 Jahren in der Schweiz, erzählt sie in fast akzentfreiem Schweizerdialekt. "Wir haben für die Zukunft unseres Landes gestimmt", sagt sie und lässt erkennen, auf welcher Seite sie steht. Die Türkei entwickle sich nicht zu einer Diktatur, wie westliche Medien immer behaupteten. Die junge Mutter versteht auch nicht, weshalb ihre Kinder in der Schweizer Schule zu hören bekommen, dass es mit der Demokratie in ihrem Land nicht zum Besten stehe. "Die Türkei ist auf gutem Weg. Das zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, während denen Erdogan an der Macht ist."

Wer in der Türkei festgenommen werde, habe sich etwas zu Schulden kommen lassen, ist Şener überzeugt und fügt als Begründung hinzu: "Wir reisen jedes Jahr in die Türkei ohne irgendwelche Probleme."

"Vorwärts käme nur Erdogan"

"Wir haben beide Nein gestimmt", sagt eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren von sich und ihrer Begleiterin. Die Beiden geben sich als Anhängerinnen der Oppositionspartei HDP zu erkennen, deren Präsident Selahattin Demirtaş sowie weitere Abgeordnete im November 2016 verhaftet wurden. Zu einem Präsidialsystem in der Heimat ihrer kurdischen Eltern, das "einer einzigen Person alle Macht einräumen würde", wollen sie nicht Ja sagen. "Das wäre das Ende der Türkei. Vorwärts käme damit nur Erdogan, aber nicht das Land. Unsere Eltern kämpfen seit zwanzig Jahren für demokratische Rechte. Sie haben dafür einiges durchgemacht in ihrer alten Heimat", sagen die jungen Frauen, die in der Schweiz aufgewachsen sind.

Ein Nein in die Urne gelegt hat auch ein Paar mit alevitischen Wurzeln, das im Raum Solothurn lebt und in der Türkei eine "sozialdemokratische Politik" unterstützt. Sie sind zuversichtlich, dass die türkische Abstimmung in der Schweiz unter korrekten Bedingungen verlaufe. Aber "man muss blind sein, um nicht zu sehen, wie unfair der Abstimmungskampf in der Türkei geführt werde.

"Unter dem Vorwand, Terroristen zu bekämpfen, terrorisiert Erdogan die Minderheiten in seinem Land", sagt ein Schweizer Rentner aus Neuenburg. Er und sein bellender Dackel müssen draussen bleiben, während seine Frau mit türkischem Pass und – wie Erdogan – sunnitischen Glaubens drinnen ein "Nein" in die Urne legt.  © swissinfo.ch

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.