- Rollende Panzer durch Istanbul und Ankara, gewaltsame Szenen im ganzen Land, mehr als 200 Tote: Der Schock über die Putschnacht in der Türkei sitzt auch fünf Jahre nach den Ereignissen noch tief.
- Die Folgen waren drastisch: Massenentlassungen, Verfolgungen und eine neue Verfassung mit stärkeren Befugnissen für den Präsidenten.
- Experte Fabian Felder spricht über die "Neue Türkei", als deren Gründervater sich Erdogan präsentieren will.
Die Bilder aus der Nacht des 15. Juli 2016 gingen um die ganze Welt: Riesige Panzer rollten durch die Innenstädte Istanbuls und Ankaras, das Parlament wurde beschossen, Präsident Erdogan entging einem Mordanschlag. Bei dem gewaltsamen Putschversuch in der Türkei vor fünf Jahren kamen mehr als 200 Menschen ums Leben, mehr als 2.000 wurden verletzt.
Auch fünf Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch sitzt der Schock über die Ereignisse noch tief. "Die Türkei als Staat hat sich in und nach dieser Nacht mittel- und langfristig grundlegend politisch verändert", ist sich Orient- und Asienwissenschaftler Fabian Felder sicher.
Zwei Jahre Ausnahmezustand
"In der Türkei galt zwei Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch der Ausnahmezustand, in dem viele Grundrechte eingeschränkt beziehungsweise ausgesetzt waren, Ausgangssperren im ganzen Land wurden verhängt", sagt Felder. Eingriffe in jeden Bereich des täglichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens seitens der türkischen Regierung seien die Folgen gewesen.
Es habe eine regelrechte "Säuberung" vor allem im Militär stattgefunden, zehntausende Soldaten und Soldatinnen und Militärangehörige seien festgenommen oder suspendiert worden. "Hochrangige Kommandeure und Generäle im ganzen Land sowohl bei der Marine als auch bei Heer und Luftwaffe wurden des Amtes enthoben und festgenommen", erklärt der Experte. Im Laufe der Jahre habe dann eine Umstrukturierung der türkischen Streitkräfte begonnen, bei der man vermeintliche Gülen-Anhänger auch durch Denunziation von ihren Posten entfernte.
Innenpolitische Verfolgung
"Die türkische Rundfunkbehörde entzog dutzenden Sendeanstalten, Online-Portalen und Radiosendern die Lizenz, da sie angeblich Verbindungen zur Gülen-Bewegung hatten", sagt Felder. Auch viele Menschen im Bildungssektor wie etwa an Schulen oder Universitäten verloren ihre Arbeitsplätze. "Eine der grossen Betätigungsfelder der Bewegung von Fetullah Gülen ist der Schul- und Bildungssektor. Die Regierung macht den im US-Exil lebenden Prediger und dessen Bewegung bis heute als Drahtzieher für den Putschversuch aus", erklärt der Experte.
Doch nicht nur die Gülen-Bewegung hat Erdogan ins Visier genommen: Auch die Verfolgung der oppositionellen pro-kurdischen Partei HDP hat zugenommen. "Diese Verfolgung geht sogar bis ins türkische Parlament hinein, denn die Immunität von immer mehr HDP-Abgeordneten wurde und wird aufgehoben, damit diese für die Justiz greifbar werden", kommentiert Felder. Der Vorwurf dabei laute stets: "Terrorismus, Propaganda und Verbindungen zur Gülen-Bewegung, also Hochverrat", sagt er.
Beschnittene Pressefreiheit
Erdogan habe so in der Türkei nach dem Putsch ein System nach seinen Vorstellungen geschaffen: "Die Justiz ist mit Vertrauensleuten besetzt, ebenso Stellen in Militär und Verwaltung", sagt Felder. Auch die Lage der Pressefreiheit habe sich bis heute drastisch verschlechtert.
"Es gibt so gut wie keine freie Presse mehr, lediglich ein paar wenige unabhängige kleine Portale und Zeitungen gibt es noch. Der Rest steht enorm unter Druck", so der Experte. Grosse Medienkonzerne wie die Doğan Gruppe befänden sich mittlerweile mehrheitlich in der Hand regierungsfreundlicher oder Erdogan-naher Investoren.
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System auf Erdogan zugeschnitten
Der Staatsapparat war und sei noch immer enorm nervös und reagiere mit Härte auf Demonstrationen gegen die Einschränkungen oder auf Gegenbewegungen von journalistischer und politisch-oppositioneller Seite. "Hunderte Menschen wurden vor Gericht gestellt und verurteilt, darunter auch bekannte Journalistinnen und Journalisten wie Mehmet Altan oder dessen Bruder Ahmet Altan - beide sind inzwischen wieder frei", erinnert Felder.
All diese Entwicklungen hätte Erdogan mit dem Verfassungsreferendum von 2017 weiter zementiert. Damals liess der Präsident über eine neue Verfassung abstimmen, die sowohl seine Exekutivbefugnisse als auch seinen Einfluss auf die Justiz erweiterte. "Sie ist ganz auf Erdogan und die AKP zugeschnitten", sagt Felder. Seit den Jahren 2016 und 2017 spreche man auch von "Yeni Türkiye" – der "Neuen Türkei", die aber nicht demokratischer sei.
Umgebauter Staat
Erdogan wolle sich als Gründervater dieser "Neuen Türkei" präsentieren und so den Staatsgründer Mustafa Kemal "Atatürk" als Nationsfigur ablösen und in den Hintergrund drängen.
Felder resümiert: "Die Türkei nach dem 15. Juli ist eine andere. Sie ist weniger frei, sie ist repressiver gegen das Volk und gegen die freien, zivilgesellschaftlichen sowie politischen und medialen Elemente des Staates geworden." Der Staat sei grundlegend umgebaut worden, auf eine Person und Partei zugeschnitten und dann mit dem Verfassungsreferendum von 2017 endgültig abgesegnet worden.
Präsidentschaftswahlen 2023
Eine echte Alternative suche man in der Opposition derzeit vergebens - trotz der massiven Folgen der Juli-Nacht. "Erdogans Wählerinnen und Wähler sind offenbar nach wie vor in hinreichendem Masse dazu bereit, ihm die politische Zukunft des Landes anzuvertrauen, denn in Umfragen liegt die AKP derzeit zwischen 30 und 35 Prozent", sagt Felder.
Das sei einer der schlechteren Werte seit Übernahme der Regierungsgeschäfte vor knapp 20 Jahren. "Man darf deshalb gespannt sein, mit welchen Methoden die Regierung diesem Umstand entgegentreten wird", meint Felder.
eigen wird sich das sicherlich zeitnah, denn die nächste Präsidentschaftswahl steht 2023 ins Haus, pünktlich zum 100. Geburtstag der Türkei. "Eines können wir jetzt schon relativ sicher sagen: Der AKP-Kandidat wird ein gewisser Recep Tayyip Erdogan sein", meint Felder.
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