Kurswechsel oder Kalkül? Vor einigen Monaten warf der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan der deutschen Regierung "Nazi-Methoden" vor, nun stimmt er plötzlich milde Töne an. Eine Expertin sagt, die freundliche Rhetorik sei mit Vorsicht zu geniessen.
Die türkischen Journalisten dürften ihren Ohren kaum getraut haben, als sie den Erklärungen ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan über seine europäischen Kollegen lauschten.
"Meine Kontakte mit Steinmeier und Merkel sind immer sehr gut gewesen", erklärte der türkische Staatschef den Reportern auf einer Auslandsreise. "Wir haben keine Probleme mit Deutschland, den Niederlanden oder Belgien. Im Gegenteil. Jene, die in den Regierungen dieser Länder sind, sind meine alten Freunde."
Zudem sagte Erdogan, er wolle, dass die Beziehungen "zu der EU, zu den Ländern der EU, gut sind".
Kein Vergleich zu den Schimpftiraden der vergangenen Monate, als er die deutsche und niederländische Regierung wahlweise als "Nazi-Überbleibsel" und "Faschisten" bezeichnete und von "Nazi-Methoden" sprach, weil Wahlkampfauftritte türkischer Politiker zum Teil von den Behörden verboten wurden.
Wie ist die rhetorische Kehrtwende Erdogans zu erklären? Steckt Kalkül dahinter oder handelt es sich tatsächlich um eine ernst gemeinte Neuausrichtung im deutsch-türkischen Verhältnis?
"Positive Wortmeldungen mit Vorsicht zu geniessen"
Gülistan Gürbey vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin ist skeptisch. "Solche vordergründig positiven Wortmeldungen sind mit Vorsicht zu geniessen und im Kontext zu sehen", sagt die Politikwissenschaftlerin im Gespräch mit unserer Redaktion.
Mit Kontext meint sie: Erdogan steht stark unter Druck, ist regionalpolitisch isoliert, hat sich mit den USA überworfen, die wirtschaftliche Entwicklung im Land stagniert. Hinzu kommt der Prozess gegen einen türkisch-iranischen Geschäftsmann in den USA, dessen weitreichende Folgen ihn und seine Regierung gefährden könnten.
"Indem die Beziehungen zu Deutschland und zur EU verbessert werden, soll das den Druck verringern sowie Stärke und Handlungsfähigkeit demonstrieren", erklärt Gürbey das Kalkül des Staatschefs.
Vor den Journalisten hatte Erdogan erklärt, die Türkei sei gezwungen, "Feinde zu verringern und Freunde zu vermehren." Dies scheint auch aus ökonomischen Gesichtspunkten geboten.
"Die ausländischen Investitionen, aber auch die Touristenzahlen sind gesunken, die wirtschaftliche Lage in der Türkei stagniert", sagt Gürbey. Die EU habe der Türkei mit der Kürzung der Beitrittshilfen die Grenzen aufgezeigt.
Expertin: Deutsch-türkisches Verhältnis wird belastet bleiben
Die Politologin von der FU Berlin geht nicht davon aus, dass sich das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara in absehbarer Zeit verbessern wird. "Das grundlegend belastete Verhältnis wird bestehen bleiben, solange sich die politischen und rechtsstaatlichen Verhältnisse in der Türkei nicht verbessern", sagt sie.
Im Kern bestehe eine Krise auf der Ebene der Werte. Deutschland und die Türkei unterscheiden sich in ihrem Verständnis vom demokratischen Regieren, wozu vor allem die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit und eine unabhängige Justiz zählt.
Seit dem gescheiterten Putsch 2016 hat sich die bereits angespannte Situation in diesen Bereichen weiter verschlechtert.
Der Regierung missliebige Personen werden häufig wegen angeblichen "Terrorverdacht" oder als "Terrorismusunterstützer" aus ihren Berufen entfernt oder gar verhaftet. "Hier gibt es massive Probleme auf türkischer Seite. Solange diese Kernfragen nicht gelöst sind, wird das Verhältnis eher belastet bleiben", betont die Politologin.
Daher misst sie auch den Freilassungen des inhaftierten Menschenrechtlers Peter Steudtner und der Journalistin Mesale Tolu, die sie "als taktisch motiviert" bezeichnet, nicht zu viel Bedeutung zu. "Erdogan möchte mit diesem Entgegenkommen wieder eine Basis in den gemeinsamen Beziehungen zu Deutschland herstellen und Stärke zeigen."
In den kommenden Monaten rechnet Gürbey häufiger mit solchen Massnahmen. Besonders die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel belastete das Verhältnis zuletzt.
Gute Beziehungen im Interesse von EU, Deutschland und Türkei
Egal ob aus pragmatischen Gründen oder aus innerer Überzeugung: Erdogan wird sich nach Überzeugung der Expertin weiter um die Entspannung im Verhältnis zu Deutschland und zur Europäischen Union bemühen.
Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Seit 1996 ist das Handelsvolumen von 28 auf 145 Milliarden Euro pro Jahr gestiegen.
Unter allen EU-Staaten ist Deutschland der wichtigste Handelspartner für die Türkei. "Auch in der Sicherheitspolitik und Energiepolitik gibt es sehr enge Beziehungen", erklärt Gürbey.
Umgedreht sei Ankara für die EU und Deutschland ein wichtiger geostrategischer Verbündeter. "Und den will man nicht verlieren, beispielsweise an Russland", ist die Expertin sicher.
Hinzu kommt der 2016 geschlossene EU-Türkei-Flüchtlingsdeal, der dazu beigetragen hat, die Zuwanderung über die Balkanroute deutlich zu senken.
Letztlich haben alle Seiten ein Interesse an einem ordentlichen Arbeitsverhältnis. Das weiss auch Recep Tayyip Erdogan. Indem er verbal abrüstet, hat der türkische Präsident einen ersten Schritt zur Verbesserung der Beziehungen eingeleitet. Doch Skepsis bleibt.
"Einige wenige versöhnliche Bemerkungen Erdogans gegenüber türkischen Journalisten am Rande einer Afrika-Reise", schlussfolgert auch der "Tagesspiegel", "sind jedenfalls noch kein belastbares Indiz dafür, dass er tatsächlich umsteuern will."
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