Das Referendum in der Türkei wurde zum langen Kopf-an-Kopf-Rennen. Erst nach Stunden verkündet die Wahlkommission den Sieg des "Ja"-Lagers. Beobachter kritisieren jedoch Unregelmässigkeiten bei der Wahl. Die Opposition fordert eine Annullierung des Referendums. Die deutsche Bundesregierung sucht derweil das Gespräch mit Ankara.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat das "Ja"-Lager trotz Unregelmässigkeiten bei der Abstimmung zum Sieger des Referendums erklärt. Das Volk habe eine "historische Entscheidung" getroffen und der Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems zugestimmt, das ihn künftig mit deutlich mehr Macht ausstattet.
Seine "erste Aufgabe" werde sein, die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung zu setzen, kündigte der Präsident am Sonntagabend in Istanbul vor begeisterten Anhängern an.
Opposition fordert Annullierung
Nach dem umstrittenen Ausgang des Referendums fordert die grösste Oppositionspartei CHP dessen Annullierung. Der stellvertretende Parteivorsitzende Bülent Tezcan sagte der türkischen Nachrichtenagentur "DHA" zufolge bei einer Pressekonferenz: "Es gibt nur eine Entscheidung, die im Rahmen des Gesetzes die Bevölkerung beruhigen kann: dass die Wahlkommission die Abstimmung annulliert."
Nur so könne eine "Diskussionen über die Legitimität" vermieden werden. Die CHP werde "alle juristischen Wege einschlagen", um das Referendum anzufechten, einschliesslich einer Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Zur knappen Mehrheit für die Verfassungsänderung sagte er: "Nach unserem Einspruch muss das noch einmal bewertet werden."
Der Leiter der Wahlkommission hatte Einwände wegen ungestempelter Stimmzettel jedoch bereits zurückgewiesen. Auch ohne Stempel der Wahlkommission habe es sich um gültige Stimmzettel gehandelt, sagte Kommissionschef Sadi Güven am Montag nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in Ankara. Die nun in der Diskussion stehenden Wahlunterlagen seien "echt" und "korrekt", von der Wahlkommission in Auftrag gegeben und angefertigt.
Während der laufenden Abstimmung am Sonntag hatte die Wahlkommission erklärt, dass auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge als gültig gezählt würden. Normalerweise werden diese von der Kommission gestempelt, um sicherzustellen, dass keine Zettel oder Umschläge verwendet werden, die nicht von ihr stammen.
Wahlausgang "nicht legitim"
CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu hatte ebenfalls scharfe Kritik an der Entscheidung geäussert und der Wahlkommission vorgeworfen, mitten in der Abstimmung die Regeln zu ändern. Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrikulu sagte der Deutschen Presse-Agentur am Montag: "Die CHP wird die während der Wahl getroffene Entscheidung der Wahlkommission anfechten, auch nicht von ihr verifizierte Stimmzettel zur Wahl zuzulassen."
Auch die pro-kurdische Oppositionspartei HDP erklärte am Montag, sie erkenne das vorläufige Ergebnis nicht an. Es sei "nicht legitim", weil die Wahlkommission auf das Resultat eingewirkt habe, teilte die HDP mit.
Der Wahlkampf sei zudem unter "ungleichen Bedingungen" geführt worden. Schon am Sonntagabend hatte die Partei angekündigt, sie werde das Ergebnis von zwei Dritteln der Wahlurnen anfechten, weil es Hinweise auf Manipulation gebe.
Bundesregierung sucht Gespräch mit Ankara
Nach dem Verfassungsreferendum will die Bundesregierung so schnell wie möglich den Gesprächsfaden mit Ankara wieder aufnehmen.
In einer ersten Reaktion erinnerten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Aussenminister Sigmar Gabriel am Montag die türkische Regierung daran, dass sie als Mitglied des Europarats, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und als EU-Beitrittskandidat Bedenken des Europarats gegen die neue Verfassung Rechnung tragen müsse. Gleichzeitig forderten sie Ankara dazu auf, der Spaltung der türkischen Gesellschaft entgegenzuwirken.
"Der knappe Ausgang der Abstimmung zeigt, wie tief die türkische Gesellschaft gespalten ist", erklärten Merkel und Gabriel. "Die Bundesregierung erwartet, dass die türkische Regierung nun nach einem harten Referendumswahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht."
Die Bundesregierung nehme das vorläufige Abstimmungsergebnis "zur Kenntnis", heisst es in der Erklärung. "Der abschliessenden Einschätzung der OSZE-Wahlbeobachter am heutigen Montag soll nicht vorgegriffen werden. Die Bundesregierung misst dieser Bewertung besondere Bedeutung bei."
Ausnahmezustand wird erneut verlängert
Nach dem knappen Ausgang des Referendums soll der Ausnahmezustand in der Türkei einem Medienbericht zufolge erneut verlängert werden. Der Sender "CNN Türk" meldete, noch am Montag sollten dafür zunächst der Sicherheitsrat und dann das Kabinett zusammenkommen, die beide unter dem Vorsitz Erdogans tagen. Am Dienstag ist die nächste Sitzung des Parlaments geplant, das der Verlängerung zustimmen muss. Mit der Mehrheit von Erdogans AKP im Parlament gilt eine Zustimmung als sicher.
Erdogan hatte den Ausnahmezustand nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli vergangenen Jahres ausgerufen. Er wurde seitdem zwei Mal verlängert und würde in der Nacht zu Mittwoch auslaufen. Erdogan hatte bereits vor dem Referendum gesagt, der Ausnahmezustand könne danach erneut verlängert werden. Die Opposition hatte Einschränkungen ihres Wahlkampfs vor dem Referendum wegen des Ausnahmezustands beklagt, der unter anderem die Versammlungsfreiheit einschränkt. (ada mit Material der dpa)
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