Die Türken haben gewählt - wer das Rennen bei der Präsidentschaftswahl gemacht hat, steht aber noch nicht fest. Sollte der amtierende Präsident Erdogan, der zuletzt knapp unter 50 Prozent lag, keine Mehrheit von 51 Prozent mehr erreichen, kommt es zur Stichwahl mit Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Wie ein Türkei-Experte die Ergebnisse einschätzt und worauf Erdogan nun setzen dürfte.
Zitterpartie in der Türkei: Seit dem späten Sonntagnachmittag (14. Mai) sind die Wahllokale geschlossen, doch noch gibt es keinen Wahlsieger. Bis zuletzt lieferten sich der amtierende Präsident Erdogan und sein Herausforderer Kilicdaroglu ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Um im Amt zu bleiben, muss Erdogan mindestens 51 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Zuletzt sah ihn die Wahlbehörde knapp unter 50 Prozent, Kilicdaroglu bei knapp 45 Prozent. Dann würde es zu einer Stichwahl kommen. "Allerdings hat der Hohe Wahlrat bekannt gegeben, dass 1.500 Wahlurnen aus dem Ausland noch nicht ausgezählt wurden", merkt Türkei-Experte Rasim Marz im Gespräch mit unserer Redaktion an.
Erdogan könnte Hürde noch nehmen
Im letzten Moment könnte Erdogan damit noch auf die erforderlichen Stimmen kommen. "Gerade im europäischen Ausland wählen die Türken mehrheitlich Erdogan", erinnert Marz.
Bereits jetzt spiegelten die vorläufigen Ergebnisse aber die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft wider. "Die Stimmenverluste der AKP können auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Türkei mit ihrer hohen Inflation und Preissteigerungen zurückgeführt werden", analysiert der Experte.
Ebenso hätten das schlechte Krisenmanagement bei der Erdbebenkatastrophe und die viel kritisierte Flüchtlingspolitik der Regierung dafür gesorgt, dass Präsident Erdogan voraussichtlich in die Stichwahl muss.
Stichwahl am 28. Mai möglich - so würde sie laufen
"Für Herausforderer Kemal Kilicdaroglu ist der Wert von 45 Prozent ein beachtlicher Erfolg, da sein Vorgänger Muharrem Ince 2018 nur 30 Prozent erreichte", sagt Marz. Trotzdem habe er das massgebliche Ziel, Präsident Erdogan in der ersten Runde bereits zu besiegen, nicht erreichen können.
Bleibt es dabei, dass keiner der Kandidaten 51 Prozent der Stimmen bekommen hat, werden am 15. Mai die Kandidaten für die zweite Runde festgelegt und die offiziellen Ergebnisse der ersten Runde am 19. Mai im Amtsblatt veröffentlicht. "Vom 20 bis 24. Mai dürfen die türkischen Wahlberechtigten im Ausland ihre Stimme abgeben. Schliesslich endet der Wahlkampf am 27. Mai, um die Stichwahl am 28. einzuleiten", zeigt Marz auf. Die offiziellen Ergebnisse würden dann am 1. Juni durch den Hohen Wahlausschuss bekannt gegeben.
Experte zur Wahl: "Überwiegend friedlich"
Die Wahlen seien überwiegend friedlich und ohne grosse Unregelmässigkeiten abgelaufen. Auch Frank Schwabe, Leiter der Wahlbeobachtungskommission des Europarats, habe dies bestätigt. "Der oft von der Opposition postulierte Vorsprung des Herausforderers Kemal Kilicdaroglu bewahrheitete sich bis dato nicht", merkt Marz an.
Auch der Vorwurf der Opposition, dass die veröffentlichten Zahlen des Hohen Wahlausschusses erhebliche Abweichungen zu den eigenen Hochrechnungen oppositioneller Medien aufwiesen, habe sich nicht erhärtet.
Nichtwähler könnten Ausschlag geben
Bei einer Stichwahl müssten beide Kandidaten um die 3 Millionen Stimmen der abgeschlagenen Präsidentschaftskandidaten Sinan Ogan und Muharrem Ince kämpfen. "Das ultrarechte Lager von Sinan Ogan besteht grösstenteils aus Protestwählern. Hier könnte Kemal Kilicdaroglu noch Stimmen erhalten, sofern diese Wähler sich nicht an der kurdischen Unterstützung des Oppositionskandidaten anstossen", vermutet er.
Ausschlaggebend könnten aus seiner Sicht aber auch noch die Nichtwähler sein: "Die Wahlbeteiligung liegt zwar bei hohen 88 Prozent, aber 10 Millionen türkische Wählerinnen und Wähler waren nicht zur Wahlurne gegangen", merkt er an.
Experte vermutet: "Präsident Erdogan wird Ängste schüren"
Im Falle einer Stichwahl rechnet Marz damit, dass die Kandidaten bis zum 28. Mai erneut mit Massenveranstaltungen für sich werben. "Präsident Erdogan wird hier massgebliche Ängste schüren, dass mit einem Machtwechsel auch eine radikale Transformation einhergeht zu Ungunsten der islamischen Mehrheitsgesellschaft", sagt der Experte.
Er werde die Unterstützung der sozialistischen Grünen für Herausforderer Kilicdaroglu, die sich aus den Wählern der kurdischen HDP zusammensetzen und Kontakte zur kurdischen Terrororganisation PKK unterhalten, massgeblich für seine Wiederwahl instrumentalisieren.
"Für Kilicdaroglu wird es schwieriger werden, die ultranationalistischen Kreise zu erreichen", meint Marz. Mansur Yavaş, ehemaliger MHP-Politiker und jetziger CHP-Oberbürgermeister von Ankara, und Meral Aksener, Vorsitzende der gemässigten Nationalisten, würden für Kilicdaroglu die Schlüsselfiguren sein, um diese Kreise zu erreichen und so in der Stichwahl gewinnen zu können.
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