Fast zwei Drittel der türkischen Wähler in Deutschland haben bei den Präsidentschaftswahlen für Recep Tayyip Erdogan gestimmt. Experten warnen aber davor, alle hier lebenden Türken über einen Kamm zu scheren.
Auf seine Wähler in Deutschland konnte sich Recep Tayyip Erdogan wieder verlassen: Nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu stimmten 64,8 Prozent der hier lebenden Türken, die an den Wahlen teilnahmen, für den türkischen Präsidenten – deutlich mehr als in der Türkei selbst.
Bei den Parlamentswahlen erhielt Erdogans Partei AKP 55,7 Prozent. Mit Autokorsos feierten seine Anhänger auch in vielen deutschen Städten den deutlichen Sieg bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen.
Der Grünen-Politiker
Doch woher kommt diese Begeisterung für die AKP? Und sind deren Wähler wirklich Feinde der Demokratie?
Deutsche mit türkischen Wurzeln eher Erdogan-kritisch
"Die angeblich sehr starke AKP-Affinität von Türken in Deutschland muss man differenziert betrachten", betont Sabrina Mayer, Politikwissenschaftlerin an der Universität Duisburg-Essen, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Zunächst einmal haben sich nur knapp die Hälfte der mehr als 1,4 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland überhaupt an der Abstimmung beteiligt – von denen wiederum stimmten dann knapp zwei Drittel für Erdogan als Präsidenten.
Doch diese Gruppe steht nicht unbedingt repräsentativ für alle Menschen mit türkischen Wurzeln, die in Deutschland leben. "Wir wissen aus einer Studie zum Wahlverhalten von Migranten, dass türkischstämmige deutsche Staatsbürger und Menschen mit einer doppelten Staatsangehörigkeit Erdogan gegenüber eher kritisch eingestellt sind", sagt Sabrina Mayer.
Gründe für den AKP-Erfolg
Allerdings bleibt: Unter den Wählern in Deutschland haben Erdogan und die AKP einen klaren Sieg errungen. Die Gründe dafür seien vielfältig, sagen Experten. Einer davon liegt in der Herkunft vieler Türken in Deutschland: "Viele von ihnen sind schon vor Jahrzehnten vor allem aus ländlichen Gegenden der Türkei nach Deutschland gekommen. Sie sind häufig konservativer eingestellt", erklärt Sabrina Mayer.
Yasar Aydin ist Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule in Hamburg. Er erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Erdogan hat nach 16 Jahren den Bonus des Amtsträgers. Viele Wähler sehen in ihm einen Aufsteigertypen, der ihre Ideale verkörpert."
Genauso verkörpere er den gewaltigen Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre. In der Türkei hatte die AKP im Wahlkampf zwar damit zu kämpfen, dass das Wachstum zuletzt ins Stocken geraten ist, dass die Preise für die Verbraucher spürbar gestiegen sind. "Die wirtschaftlichen Probleme der jüngsten Zeit sind für die Türken hier in Deutschland aber weniger spürbar", sagt Yasar Aydin.
Nicht zu unterschätzender "Solidarisierungseffekt"
Der Sozialwissenschaftler glaubt aber auch, dass das sehr kritische Bild von Erdogan in der deutschen Öffentlichkeit seine Anhänger mobilisiert haben könnte. "Dass Erdogan nicht zum Wahlkampf nach Deutschland kommen durfte, hat zum Teil einen Solidaritätseffekt erzeugt", erklärt Aydin.
Auch die Diskussion um das gemeinsame Foto der deutsch-türkischen Fussballer Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten sei letztlich eine Werbung für Erdogan gewesen: "Die Fussball-WM im Land eines Präsidenten mit ähnlich autoritären Zügen wie Erdogan wird nicht als Problem angesehen. Wenn sich Özil mit Erdogan abgibt, ist das dagegen schon ein Problem", sagt Aydin. "Das finden viele Türken in Deutschland unglaubwürdig."
Wissenschaftler: Özdemirs Äusserungen "zu pauschal"
Der türkische Präsident hat in den vergangenen Monaten zahlreiche politische Gegner inhaftieren lassen und sich eine Verfassung zusammengeschustert, die ihm eine nie dagewesene Machtfülle verleiht.
Doch kann man davon ausgehen, dass seine Anhänger die Demokratie ablehnen? Yasar Aydin bezeichnet die entsprechenden Äusserungen von Cem Özdemir als "unglücklich und zu pauschal".
"Ich hätte mir auch ein anderes Ergebnis gewünscht. Doch wenn ich das Demokratieprinzip ernst nehme, muss ich auch akzeptieren, dass Kandidaten gewählt werden, für die ich selbst nicht gestimmt habe", sagt der Sozialwissenschaftler. Die AKP zu wählen, sei keine Straftat. "Wir sollten uns mit ihr politisch auseinandersetzen, anstatt neue Grenzziehungen zu betreiben."
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