Die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu sorgt für massive Proteste. Doch hinter den Kulissen könnte sich ein politisches Kalkül verbergen, das weit über seinen Fall hinausreicht.
Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu hat die Türkei in eine politische Krise gestürzt. Vor dem Fest des Fastenbrechens kam es am Wochenende erneut zu landesweiten Protesten, die Opposition forderte Neuwahlen. Beobachter sehen hinter dem Vorgang einen lang angelegten Plan der Regierung, die Opposition zu zersplittern.
Auslöser der grössten Massenproteste in der Türkei seit Jahren ist die Verhaftung Imamoglus am 19. März. Der abgesetzte Istanbuler Bürgermeister, der nach seiner Festnahme zum Präsidentschaftskandidaten der grössten Oppositionspartei CHP ernannt wurde, gilt als wichtigster innenpolitischer Rivale Erdogans. Seine Partei ging als stärkste Kraft aus den landesweiten Regionalwahlen 2024 hervor - Erdogans Partei AKP landete erstmals nur auf dem zweiten Platz.
Die Demonstranten werfen dem Präsidenten vor, sich mithilfe des Justizapparats und der Polizei seines aussichtsreichsten Herausforderers bei der nächsten Wahl entledigen zu wollen. Gegen Imamoglu wird wegen Korruptions- und Terrorvorwürfen ermittelt, er weist alle Vorwürfe von sich.
CHP will samstags und mittwochs Proteste organisieren
Die CHP initiierte eine Unterschriftenkampagne, mit der sie die Freilassung Imamoglus und vorgezogene Neuwahlen fordert. Die Partei will von nun an jeden Samstag an unterschiedlichen Orten im Land und jeden Mittwochabend in Istanbul Proteste organisieren.
Eine vorgezogene Wahl könnte vom Parlament mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit beschlossen werden. In dem Fall dürfte auch Erdogan erneut kandidieren. Das wäre ihm bei regulären Wahlen untersagt, weil die Verfassung in dem Fall maximal zwei Amtszeiten vorsieht.
Dass Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei dem Ansinnen der Opposition aktuell zustimmt, gilt angesichts der explosiven Stimmung im Land als unwahrscheinlich. Reguläre Wahlen sollen 2028 stattfinden.
Friedensprozess als politisches Manöver?
Der türkische Journalist Ragip Soylu argumentiert, dass Erdogan die Zeit nutze, um die türkische Opposition zu spalten, um seine Partei und sich alternativlos zu machen: "Die öffentliche Empörung über Imamoglus Verhaftung wird mit der Rückkehr zur Normalität abklingen. Seine umfassende Strategie zur Schwächung und Umstrukturierung der Opposition wird vor der nächsten grossen politischen Bewährungsprobe abgeschlossen sein."
Dabei ist die Empörung über die Inhaftierung eigentlich bei der linken kurdischen Bevölkerung anschlussfähig. Ohne ihre Stimmen wäre Imamoglu nicht Bürgermeister geworden. In der Vergangenheit waren es vor allem kurdische Politiker, die inhaftiert und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden.
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Die prokurdische Partei Dem verhält sich derzeit aber vergleichsweise zurückhaltend zu den Vorfällen. Sie steht am Kopf einer Initiative, die zwischen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Regierung einen neuen Friedensprozess und die Beendigung des Kurdenkonflikts vermitteln will. Beobachter sehen ihre Zurückhaltung damit begründet, dass die Partei dem Prozess keine zusätzlichen Steine in den Weg legen will.
"Erdogans klassische Taktik der Spaltung ist deutlich erkennbar: Teile der Opposition werden kooptiert, andere hart verfolgt."
Der Türkei-Experte Salim Cevik schrieb in einem Beitrag für das Arab Center Washington dazu: "Erdogans klassische Taktik der Spaltung ist deutlich erkennbar: Teile der Opposition werden kooptiert, andere hart verfolgt." Es beginne eine neue Phase von Erdogans Autoritarismus, in der die letzten institutionellen Wege zu einem demokratischen Machtwechsel – insbesondere durch Wahlen – aktiv demontiert würden.
Zahlreiche Studierende inhaftiert
Der 53-jährige Imamoglu wird im Hochsicherheitsgefängnis Marmara in Istanbul festgehalten. Auch zahlreiche festgenommene Studenten verbringen die Feiertage, die in der Türkei von Sonntag bis Freitag andauern, hinter Gittern.
Dass Imamoglu freigesprochen und bei künftigen Wahlen zugelassen wird, gilt derzeit unwahrscheinlich. In zahlreichen weiteren Verfahren drohen dem Politiker Politikverbote. Kurz vor seiner Festnahme erkannte ihm seine Universität zudem seinen Abschluss ab - eine Voraussetzung für die Kandidatur.
Verunsicherung unter Protestierenden
Bei der bislang grössten Massenkundgebung gingen am Samstag in Istanbul Hunderttausende Menschen auf die Strasse. Auch in anderen Städten des Landes hatte es in den Tagen zuvor wiederholt Kundgebungen gegeben, wobei die Polizei teils mit brutaler Härte gegen die grösstenteils friedlichen Demonstranten vorging.
Laut Regierungsangaben wurden seit Beginn der Proteste rund 2.000 Menschen festgenommen, darunter mehrere Journalisten. Gegen 74 Verhaftete fordert die Istanbuler Staatsanwaltschaft bis zu drei Jahre Haft in einer ersten Anklageschrift. Das harsche Vorgehen der Polizei und Justiz hat zu viel Angst und Verunsicherung unter den grösstenteils jungen Protestierenden geführt. (Anne Pollmann, dpa/bearbeitet von sbi)