Es waren Wahlen auf kommunaler Ebene, aber gleichzeitig auch ein bedeutender Stimmungstest für Erdogan: Die Opposition kann überraschend jubeln - und viele fragen, was das mit der Stärke des Präsidenten macht.

Eine Analyse
von Mirjam Schmitt (dpa)
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Mirjam Schmitt (dpa) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Niederlage der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP bei der Kommunalwahl hat die politische Landschaft in der Türkei aufgerüttelt. Während sich die Opposition im Aufwind sieht, muss Präsident Recep Tayyip Erdogan das Debakel aufarbeiten, wie er selbst nach der Wahl einräumte.

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Bei der Abstimmung hatte Erdogans AKP ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Erstmals seit ihrer Gründung 2002 wurde sie bei einer Wahl nur zweitstärkste Kraft im Land.

Die grösste Oppositionspartei CHP gewann inoffiziellen Ergebnissen zufolge landesweit 35 der 81 Oberbürgermeisterposten und konnte damit ihren grössten Erfolg seit Jahrzehnten einheimsen. Sie verteidigte zudem ihre Posten in der wichtigen Metropole Istanbul und der Hauptstadt Ankara – insgesamt gewann sie in den fünf grössten Städten des Landes. Zudem weitete sie ihren Einfluss in Anatolien – eigentlich Kernland der AKP – aus.

Rund 61 Millionen Menschen, darunter rund eine Million Erstwähler, waren am Sonntag dazu aufgerufen gewesen, Bürgermeister, Gemeinderäte und andere Kommunalpolitiker zu wählen. Oppositionsanhänger feierten ihren Erfolg bis zum frühen Montagmorgen ausgelassen. Sowohl in Istanbul als auch in Ankara strömten die Menschen mit Türkei-Flaggen auf die Strasse. Autokorsos fuhren hupend durch die Stadt.

Kommunalwahlen in der Türkei
Anhänger der Mitte-Links-Partei CHP feiern vor dem Rathaus in der türkischen Hauptstadt Ankara. © dpa / Ali Unal/AP/dpa

Denkzettel für Erdogan angesichts hoher Inflation

Das Ergebnis der Wahl kam überraschend. Noch bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vor nicht einmal einem Jahr schien es, als könnten Erdogan weder die massive Inflation noch die Unzufriedenheit nach den verheerenden Erdbeben im Südosten etwas anhaben. Er musste sich zwar einer Stichwahl stellen, gewann aber am Ende souverän.

Politische Beobachter wie der Analyst Berk Esen gehen davon aus, dass viele AKP-Anhänger angesichts der schlechten Wirtschaftslage nicht zur Wahl gingen oder für kleinere konservative Parteien wie die islamistische Yeni Refah stimmten. Diese machte der AKP Konkurrenz und konnte zwei Provinzen von ihr erobern.

Die Inflation von rund 67 Prozent macht vor allem Geringverdienern und Rentnern zu schaffen. Vor allem Lebensmittel und Mietpreise werden stetig teurer. Die ideologische Bindung ist bei Kommunalwahlen traditionell nicht so stark, was es konservativen Wählern leichter gemacht haben könnte, Erdogan einen Denkzettel zu verpassen. Darauf deutet auch die geringere Wahlbeteiligung hin. Die lag nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur mit gut 78 Prozent etwa sechs Prozentpunkte unter der bei vergangenen Kommunalwahlen.

Türkei vor grossem politischen Umbruch?

Ob Erdogan dauerhaft geschwächt ist, wird sich zeigen. Grosse Städte zu regieren kann eine Chance für die Opposition sein, das eigene Profil zu schärfen - noch dazu in einem Land, wo die Medien zum Grossteil staatlich kontrolliert sind. Erfahrungsgemäss macht es die Regierung in Ankara oppositionell regierten Städten aber oft schwer, bedeutende Veränderungen anzustossen oder grosse Projekte umzusetzen.

Erdogan selbst hat sich zudem in der Vergangenheit immer wieder als anpassungsfähig erwiesen. Der Plan einer Verfassungsänderung scheint aber erst mal vom Tisch. Analysten waren davon ausgegangen, dass ein starkes Abschneiden der AKP den Präsidenten darin bestärken könnte, eine Verfassungsänderung anzustreben, um sich eine weitere Amtszeit zu sichern.

Analyst Esen weist zudem darauf hin, dass der Erfolg der Opposition nicht bedeute, dass die Türkei nun demokratischer sei. Aus seiner Sicht ist die Türkei unter Erdogan vielmehr ein wettbewerbsorientiertes autoritäres Regime, in dem die Wahlen weder frei noch fair sind. Zugleich schrieb er auf der Plattform X: "Wenn die CHP die Chance nutzt, wird es einen grossen politischen Bruch geben."

Istanbuler Bürgermeister gewinnt an Profil

Ob die CHP das Momentum auch für Erfolge auf nationaler Ebene nutzen kann, hängt teilweise auch von ihrem Hoffnungsträger ab – dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Er wurde in der 16-Millionen-Metropole wiedergewählt und stärkte damit seine Position als möglicher künftiger Präsidentschaftsanwärter. Istanbul, das wirtschaftliche und kulturelle Herz des Landes, gilt als Sprungbrett für höhere Ambitionen. Auch Erdogans politischer Aufstieg begann in Istanbul.

Imamoglu droht aber auch immer noch ein Politikverbot als Resultat eines Verfahrens gegen ihn, das viele Beobachter als politisch motiviert kritisieren. Eine Entscheidung wird in den kommenden Wochen erwartet.

Ekrem Imamoglu
Ekrem Imamoglu konnte keinen Oppositionsblock hinter sich vereinen - und entschied die Wahl dennoch für sich. © dpa / Tolga Uluturk/ZUMA Press Wire/dpa

Imamoglu gewann laut vorläufigen Ergebnissen mit rund elf Prozent Vorsprung und liess sich noch in der Nacht zu Montag vor jubelnden Anhängern feiern. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der 53-Jährige erneut Unterstützung von kurdischen Wählern erhielt, obwohl die prokurdische DEM eine eigene Kandidatin aufstellte.

Der Bürgermeister hat zudem bewiesen, dass er die Sechser-Allianz, mit der die Opposition bei den Präsidentenwahlen angetreten war, nicht braucht. Die nationalkonservative Iyi-Partei, die als Konkurrentin von Imamoglus CHP galt, versank in der Bedeutungslosigkeit.

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