Der türkische Präsident und seine Partei gehen als Favoriten in die Wahlen am 24. Juni. Doch der Wahlkampf läuft für sie nicht so rund wie angenommen.
Als Recep Tayyip Erdogan im April Neuwahlen ausrief, klang das nach einem Überraschungscoup: Turnusmässig standen die Wahlen erst 2019 an. Mit der Vorverlegung wollte das türkische Staatsoberhaupt seine Konkurrenten überrumpeln.
Doch so richtig ist die Rechnung nicht aufgegangen: Die Opposition hat sich formiert und prägt den Wahlkampf. Könnte am 24. Juni das Undenkbare eintreten? Könnten Erdogan und seine Partei AKP die Präsidenten- und Parlamentswahlen verlieren?
Schwächelnde Wirtschaft als wichtigstes Thema
Erdogan rücke im Wahlkampf das Thema nationale Stärke in den Vordergrund und präsentiere sich als Kämpfer gegen innere und äussere Feinde, erklärt Ludwig Schulz, Politikwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München, im Gespräch mit unserer Redaktion.
"Die AKP steht für den wirtschaftlichen Erfolg der letzten 16 Jahre. Und Erdogan kämpft entschlossen gegen alle Feinde, bietet Europäern und Amerikanern die Stirn, verhandelt mit den neuen Weltmächten Russland und China auf Augenhöhe. So sehen ihn seine Anhänger", erklärt der Türkei-Experte.
Doch das Bild hat Schaden genommen. Der Kurs der türkischen Lira fällt, die Inflation ist für viele Türken spürbar gestiegen. "Das Thema Wirtschaft hat im Wahlkampf mit Abstand die wichtigste Rolle gespielt", sagt Charlotte Joppien, Co-Geschäftsführerin des Türkei-Europa-Zentrums der Universität Hamburg, unserer Redaktion.
Joppien zufolge "zeigt sich jetzt, dass das lange beeindruckende Wirtschaftswachstum zu einem beachtlichen Teil auf Pump finanziert und auf frisches Geld aus dem Ausland angewiesen war."
Auch die Opposition setzt Themen
Erdogan wirkt nach Einschätzung der Wissenschaftler inzwischen weniger dynamisch und selbstsicher als zuvor. "Meinem Eindruck nach ist er ein Stück weit überrascht, vielleicht auch verunsichert von der Entwicklung des Wahlkampfs", schildert Joppien.
"Lange war es so, dass er den Ton vorgegeben hat und die Opposition über jedes Stöckchen sprang, das er hingehalten hat. Jetzt ist die Opposition proaktiver und gibt Themen vor."
Inzwischen hat Erdogan sogar in Aussicht gestellt, den seit dem Putschversuch 2016 geltenden Ausnahmezustand nach den Wahlen aufzuheben - das hatte die Opposition gefordert.
Erdogans politischen Gegner profitieren zudem von einem taktischen Schachzug des Präsidenten: Die Regierung hatte zur Parlamentswahl Wahlbündnisse zugelassen - Erdogan wollte so sicherstellen, dass es die mit seiner AKP zusammenarbeitende rechtsnationale Partei MHP ins Parlament schafft. Doch ein Bündnis haben nun auch Oppositionsparteien geschlossen.
Druck aus unterschiedlichen Richtungen
Seine wichtigsten Gegenkandidaten könnten Erdogan an unterschiedlichen Fronten Wähler abjagen.
Muharrem Ince: Der Kandidat der säkularen CHP hat sich als scharfer Kritiker von Erdogan profiliert. Die Partei des 68-Jährigen orientiert sich an der europäischen Sozialdemokratie, stützt sich auf das Bürgertum, aber auch auf junge und intellektuelle Wähler in den Grossstädten der Westtürkei. Der sich volksnah gebende Ince will aber auch konservative Türken auf seine Seite ziehen.
Meral Aksener: Der Aufstieg der früheren Innenministerin ist für Erdogan besonders gefährlich, denn Aksener fischt mit ihrer "Guten Partei" vor allem im nationalistischen Lager nach Wählern. Sie tritt für einen starken Staat ein, pocht aber auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Um der AKP die Mehrheit im Parlament abzujagen, hat sie ein Wahlbündnis mit der CHP geschlossen. Und in einer Stichwahl um die Präsidentschaft könnte sie ebenfalls den CHP-Kandidaten Ince unterstützen.
Selahattin Demirtas: Seit 2016 sitzt der Anführer der kurdischen HDP wegen angeblicher Terrorunterstützung in Haft – seiner Popularität tat das keinen Abbruch. Demirtas kandidiert aus der Zelle für das Präsidentenamt. Wenn es seine Partei wie im Juni 2015 über die Zehn-Prozent-Hürde schafft, könnte es für die Mehrheit der Erdogan-Partei im Parlament eng werden. Die HDP spricht inzwischen nicht mehr nur die kurdische Bevölkerungsgruppe an, sondern auch linke und liberale Wähler in den Grossstädten.
Erdogan dank Medien im Vorteil
Trotz allem: Erdogan und seine Partei gehen als Favoriten in die Wahlen. In regierungsnahen Medien beginnen die Nachrichtenblöcke stets mit den Auftritten Erdogans, wie Ludwig Schulz erklärt. "Von den Gegenkandidaten ist wenig bis nichts zu sehen - ausser wenn Erdogan angegriffen wird oder selbst angreift."
Die AKP stützt sich vor allem auf nationalkonservative Wähler in ländlichen Gebieten. Wegen seiner grossen Bekanntheit kann Erdogan auch auf ein gutes Abschneiden unter den rund drei Millionen Wählern im Ausland hoffen. "Statistisch gesehen spricht alles für ihn und für ein starkes Abschneiden der AKP. Aus allen Wahlen und Abstimmungen der vergangenen 16 Jahre gingen beide als Sieger heraus", sagt Schulz.
Stichwahl um Präsidentenamt möglich
Wenn die Wahl sauber verläuft, könnte Erdogan nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers bei der Präsidentschaftswahl allerdings die absolute Mehrheit verpassen. Dann müsste er in eine Stichwahl. In Bedrängnis würde der Amtsinhaber aber nur geraten, wenn sich wirklich viele Wähler hinter seinen Gegenkandidaten stellen.
Wie haltbar das Bündnis der Opposition ist, müsse man aber abwarten, sagt Charlotte Joppien. "Es wurde auf parteipolitischer Ebene geschlossen. Ob sich die Mitglieder oder Wähler daran halten oder vielleicht doch wieder die AKP wählen, ist schwer vorherzusagen."
Schwieriger könnte es für die AKP werden, die Mehrheit im Parlament zu verteidigen. Doch für deren Verlust hat Erdogan praktisch vorgesorgt: Unter den Bedingungen des präsidentiellen Systems, das er seit 2016 Stück für Stück einführt, spiele das Parlament nicht mehr so eine zentrale Rolle wie zuvor, gibt Ludwig Schulz zu bedenken: "Der Präsident kann verfassungskonform per Dekret am Parlament vorbeiregieren."
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