Gewinnt Recep Tayyip Erdogan die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag, wird er mit neuen Vollmachten ausgestattet. Auch wenn sein Sieg nicht sicher scheint: Erdogan hat nach wie vor viele ihm treu ergebene Anhänger. Woher rührt diese Verehrung?
Am kommenden Sonntag finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, einen Systemwechsel abschliessen sollen: Sollte Recep Tayyip Erdogan sie für sich entscheiden, tritt auch das Präsidialsystem in Kraft, über das die türkischen Bürger vergangenes Jahr per Referendum abgestimmt hatten.
Verfehlt Erdogan am Sonntag die absolute Mehrheit, kommt es zwei Wochen später zur Stichwahl.
Der türkische Präsident hat schon mehrere Wahlen gewonnen, erreichte auch nach dem gescheiterten Putschversuch vor zwei Jahren eine knappe Mehrheit für sein umstrittenes Präsidialsystem. Sicher ist sein Sieg diesmal jedoch nicht.
Islamwissenschaftler: "Erdogan spürt, dass ihm die Felle davonschwimmen"
Aussenminister Mevlüt Cavusoglu lobte seinen Präsidenten kürzlich in einem Interview mit der "Zeit": Erdogan habe seinem Land "alle Freiheiten gebracht, Pressefreiheit, das Recht auf freie Meinungsäusserung, Menschenrechte".
Diese Ansicht teilen jedoch längst nicht mehr alle Türken. Nach Einschätzung des Islamwissenschaftlers Udo Steinbach spürt der Präsident, "dass ihm die Felle davonzuschwimmen beginnen." Und auch Erdogans Partei AKP habe "sichtlich an Mut und an Zustimmung verloren".
Erdogans Erfolge lägen lange zurück, sagt Steinbach im Gespräch mit unserer Redaktion. Allerdings habe er in seiner Regierungszeit die Wirtschaft der Türkei "nach vorne gebracht" und sich damit grossen Rückhalt in der Bevölkerung verschafft.
Die Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft hatten in der Türkei einen historischen Reformprozess angestossen: Ein Drittel der Verfassungsartikel wurde geändert, über 200 Gesetzesartikel wurden in Einklang mit den Anforderungen der EU gebracht – vor allem in Bezug auf die demokratische-rechtsstaatliche Ordnung und die Wahrung von Menschen- und Minderheitenrechten gab es Fortschritte. Unter anderem wurde Folter verboten und die Todesstrafe abgeschafft.
Statt EU-Orientierung der Stolz auf die Vergangenheit
Doch die immer wieder in die Länge gezogenen Verhandlungen mit der EU sorgten am Ende für Enttäuschung. Bis 2005, sagt Steinbach, habe sich die Türkei unter Erdogan "grundlegend verändert und reformiert. Trotzdem hat man hat sie nicht aufgenommen."
In der Folge verliess Erdogan ab 2011 seinen Reformkurs. Stattdessen thematisierte er nun die "Erniedrigung" der Türkei seitens der EU. Indem er gleichzeitig den Stolz auf den Islam und die osmanische Vergangenheit wiederbelebte, füllte er ein Vakuum, das durch die ergebnislose Orientierung an Europa entstanden war.
Ein anderer, ebenso wichtiger Grund für Erdogans Popularität: Als Sohn eines Seemanns stamme er "aus den untersten Gesellschaftsschichten", erläutert Islamexperte Steinbach.
Die ärmeren und weniger gebildeten Teile der Bevölkerung hat er ausserdem auf seiner Seite, weil in seiner Regierungszeit die Wirtschaft auch im bis dahin stark unterentwickelten Anatolien zu boomen begann.
Dieser "Elitenwechsel zugunsten der Landbevölkerung" habe "die konservativen Türken in Anatolien zu Erdogans treuester Wählerschaft gemacht", argumentiert Steinbach. "Erdogan ist einer von ihnen, sein Aufstieg dient ihnen als Vorbild."
Für einen grossen Teil der übrigen türkischen Gesellschaft aber gelte: "Der ganz grosse Enthusiasmus für den Präsidenten hat nachgelassen." Die optimistischen Äusserungen von Aussenminister Cavusoglu seien "wie das sprichwörtliche Pfeifen im Wald": Erdogan und seine Umgebung hätten Angst vor der drohenden Niederlage, auch Erdogan selbst habe das Vertrauen verloren.
Die türkische Opposition scheint sich indes wieder gefangen zu haben: Sie ist besser organisiert als beim Referendum zum Präsidialsystem und hat ein Wahlbündnis mit zugkräftigen Kandidaten auf die Beine gestellt.
Der Opposition kommt auch der aktuelle wirtschaftliche Rückwärtstrend entgegen. Timothy Ash, Analyst für den britischen Investmentfonds BlueBay, spricht in einem "Spiegel"-Interview von "sich rapide verlangsamender wirtschaftlicher Aktivität" in der Türkei.
Er sieht eine tiefe Verunsicherung in der Bevölkerung angesichts von fallenden Wechselkursen, rückläufigem Wachstum und wachsendem Handelsdefizit. Auch die internationalen Investoren sind laut Ash seit Ende 2012 auf dem Rückzug. "Erdogan kann die Wahl verlieren", resümiert er.
Kritik wächst auch bei Auslandstürken
Eine Rolle könnten dabei auch die Auslandstürken spielen. Sie machen etwa fünf Prozent der türkischen Wähler aus. In der Vergangenheit stimmten sie überproportional häufig für Erdogans AKP.
Die 1,4 Millionen in Deutschland lebenden Türken machen fast die Hälfte der im Ausland lebenden Türken aus. Während in der Türkei erst am Sonntag gewählt wird, konnten sie ebenso wie ihre Landsleute in anderen Ländern bereits bis Dienstag ihre Stimme abgeben.
Udo Steinbach erinnert daran, dass an der Abstimmung über das Referendum vor zwei Jahren nur die Hälfte der Deutschtürken teilgenommen hatte. Von ihnen stimmten jedoch 63 Prozent mit Ja. Diese enorme Zustimmung für einen Autokraten wie Erdogan hatte für Verwunderung gesorgt.
Steinbach vermutet, dass Erdogans Politik mit ihrer Rückbesinnung auf den Islam und der Orientierung an den unteren Gesellschaftsschichten auch vielen Auslandstürken zu neuem Selbstbewusstsein verholfen hat.
Doch diese Einstellung könnte sich dem Experten zufolge geändert haben.
Die Repression in der Türkei hat seit dem Referendum zugenommen. Viele Menschen wurden aus ihren Jobs entlassen, weil sie verdächtigt wurden, Anhänger der Gülen-Bewegung zu sein. Diese macht Erdogan für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich.
"Die Nachrichten von diesen Menschen werden verstärkt auch zu den Deutschtürken kommuniziert", sagt Steinbach. Auch hier wachse daher die Kritik.
Es sei durchaus denkbar, dass im Fall einer höheren Wahlbeteiligung auch bei den Auslandstürken die Mehrheit für Erdogan und seine AKP ins Wanken gerate.
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