Was das Motiv der abtrünnigen Militärangehörigen in der Türkei angeht, haben Experten mehrere Erklärungsansätze. Dabei geht es um die Angst, hohe Posten zu verlieren, um kemalistische Prinzipien – und nicht zuletzt um Geld.

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Wer genau steckt hinter dem Staatsstreich in der Türkei? Und welche konkreten Motive hatten die Putschisten? Nach dem gescheiterten Putschversuch, bei dem mehr als 260 Menschen ums Leben gekommen sein sollen, liess die Regierung bereits Tausend Verdächtige festnehmen.

Zeitungen veröffentlichten Listen mit Namen von Militärangehörigen, die beteiligt gewesen sein sollen: der "Süddeutschen Zeitung" zufolge darunter Luftwaffenoffiziere, Gendarmerie-Kommandeure, Offiziere der Ägäis-Armee und aus dem Südosten des Landes, wo das Militär gegen die kurdische PKK kämpft.

Im Zentrum der Planungen soll die Luftwaffe gestanden haben, Anführer des Widerstands soll Akın Öztürk gewesen sein. Ein ehemaliger General, der 2013 bis 2015 Oberkommandierender der Luftstreitkräfte war und bis zuletzt Mitglied im einflussreichen Militärrat.

Viele Soldaten, heisst es, hielten die Aktion zunächst für eine Übung. Um eine genaue Einschätzung zu den Hintergründen der Putschisten zu geben, "liegen bisher leider zu wenige Informationen vor", sagt Türkei-Experte Kristian Brakel von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Gespräch mit unserer Redaktion. "Wir kennen zwar Namen der Generäle, aber ob diese Gülenisten sind oder nicht, ist schwierig festzustellen."

Gülen-Anhänger schon länger im Visier

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte schnell einen Verantwortlichen ausgemacht, der hinter dem Putschversuch stehen soll: Fethullah Gülen, ein im amerikanischen Exil lebender Imam, ehemals Weggefährte Erdogans und nun dessen Erzfeind. Er führt die Hizmet-Bewegung an. Sie ist konservativ sunnitisch und setzt sich unter anderem für Bildung ein. Als Konsequenz hat das Bildungsministerium gerade landesweit 15.200 Staatsbedienstete aus seinem Verantwortungsbereich vom Dienst suspendiert.

Schon in den vergangenen Jahren und Monaten liess Erdogan in der Türkei immer wieder angebliche Gülen-Anhänger aus dem Dienst entfernen, zum Beispiel beim Militär, bei der Polizei, in der Justiz. Beobachter gehen nun davon aus, dass die Putschisten die Angst antrieb, ebenfalls bald "aussortiert" zu werden, da offenbar eine neue Entlassungswelle anstand.

Ein Szenario, das Ludwig Schulz, Türkei-Experte am Centrum für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität in München, im Gespräch mit unserer Redaktion durchaus als plausibel einordnet: "Es besteht schon die Möglichkeit, dass sich genau die Gruppe, die aktuell in den Fokus der Regierung gerückt war, mit dieser Aktion retten wollte."

Dass die Regierung die "Gülen-Dämonisierung" nutze, um Regierungskritiker von ihren Posten zu entfernen, sei schliesslich keine neue Entwicklung. Schulz' Meinung nach wird der "Gülen-Faktor" in der aktuellen Diskussion jedoch "etwas überbewertet". Erdogan benutze dieses Argument so übertrieben, dass es schon wieder unglaubwürdig wirke.

Sorge um Zahlungen aus Armeefonds?

Ludwig Schulz hält zwei weitere Erklärungsansätze für einleuchtend: Das Militär in der Türkei habe sich stets als Hüter der kemalistischen Prinzipien verstanden. Zu ihnen gehört fraglos die Gewaltenteilung. "Nun stehen aktuell grosse Justizreformen an, führende Richter werden ihre Arbeit verlieren."

Pläne, nach denen die Regierung sich mehr Kontrolle über die Justiz verschaffen will, widersprechen den Vorstellungen überzeugter Kemalisten. Schulz kann sich deshalb durchaus vorstellen, dass kemalistische Kräfte im Militär diese Entwicklungen mit einem Putsch aufhalten wollten.

Der Kemalismus gilt als Ideologie der Gründerzeit der Türkei, die sich im 21. Jahrhundert vor allem über Nationalismus, die Republik als Staatsform und vor allem auch den Laizismus - die Trennung von Religion und Staat - definiert.

Das dritte Motiv, das Ludwig Schulz in Erwägung zieht, hängt mit dem türkischen Armeefonds Oyak zusammen: Er wird durch eine Pflichtabgabe aller Offiziere finanziert und unterstützt die pensionierten Militärs finanziell, wenn sie aus dem Dienst ausscheiden.

Oyak ist jedoch nicht nur ein Fonds, sondern ein riesiger Mischkonzern, zu dem unter anderem eine eigene Bank gehört, Stahlwerke und Automobilzulieferer. Nach 16 Jahren, berichtet Schulz, seien in diesem Jahr Führungskräfte um den Vorstandsvorsitzenden Coskun Ulusoy überraschend zurückgetreten.

Der neue Vorsitzende soll Erdogan nahestehen. "Auch diese dubiosen Rücktritte könnten Teile des Militärs beunruhigt haben", glaubt Schulz. Armeeangehörige, die sich um ihre Ansprüche sorgten, könnten den Putschversuch organisiert und angetrieben haben.

Opposition warnt vor Alleinherrschaft Erdogans

Der Wissenschaftler befürchtet, dass die konkreten Motive und Gründe der Putschisten auch in den kommenden Wochen noch nicht ans Licht kommen werden: "Dafür fehlt es an kritischen Medien in der Türkei, die auch investigativ recherchieren. Wir wären auf deren Beobachtungen angewiesen."

Die Informationen, die über soziale Netzwerke abgesetzt würden, mündeten zu schnell in Verschwörungstheorien. Dass Erdogan den Putschversuch inszeniert haben könnte, was unter anderem Gülen angedeutet hatte, glaubt der Türkei-Experte indes nicht. "Dafür gibt es zur Zeit keine Indizien."

Allerdings: Nach der Ausrufung des Ausnahmezustands in der Türkei warnt die Opposition des Landes vor einer Alleinherrschaft Erdogans. Die türkische Gesellschaft sei gezwungen gewesen, zwischen einem Putsch und einem undemokratischen Regime zu wählen, teilte die pro-kurdische Partei HDP am Donnerstag mit. "Diese Wahlmöglichkeit lehnen wir ab."

Der Putschversuch sei zu einer Gelegenheit geworden, alle Gegner der Regierung auszuschalten und die demokratischen Rechte und Freiheiten weiter einzuschränken, hiess es.

Auch die grösste Oppositionspartei CHP verurteilte die Verhängung des Ausnahmezustands. "Das war Illoyalität, Undank und ein ziviler Putsch gegen das Parlament", sagte CHP-Fraktionschef Özgür Özel dem TV-Sender CNN Türk vor einer Sitzung des Parlaments.

Beide Parteien hatten den Putschversuch - wie auch die ultrarechte MHP - kurz nach dessen Beginn Ende vergangener Woche verurteilt. Das türkische Parlament diskutiert am Donnerstagnachmittag über den Ausnahmezustand.

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