Das Telefon klingelte am Sonntagmittag. "Guten Tag, könnten Sie mich bitte mit Ihrer Zuschauerredaktion verbinden?" Der Anrufer war offenbar nicht der erste, der durchklingelte. Die geprobte Stimme auf der anderen Leitung sagte, sie werde das Anliegen ausrichten. "Na gut", so der Anonyme. "Sie haben gestern eine tolle Dokumentation über Pinguine gezeigt. Ich hab's leider verpasst, weil ich auf den Strassen unterwegs war. Warten Sie mit der Neuausstrahlung auf einen erneuten Volksaufstand oder gibt’s demnächst eine Wiederholung?"
Ein Anruf, der bei CNN Turk, dem türkischen Ableger des US-Nachrichtensenders CNN, einging, macht in den sozialen Netzwerken derzeit grosse Runde. Das Gespräch, das keine 30 Sekunden dauerte, steht nur für eine Facette für die seit Freitag anhaltenden Ereignisse in Istanbul. Die grösste Volksbewegung der jüngeren Geschichte eines Landes, das in seiner Historie viele Kämpfe auszutragen hatte, hält die Türkei in Atem und versetzt grosse Teile der Republik in einen totalen Ausnahmezustand. Mehrere Städte solidarisierten sich mit Istanbul und gingen auf die Strassen. Fatal ist, dass die wichtigsten Medien die Geschehnisse grösstenteils einfach ignorieren.
Medien ignorieren Demonstrationen
Am Montag versammelten sich Tausende vor dem Dogus-Gebäude im Istanbuler Stadtteil Maslak und protestierten gegen die Ignoranz des wichtigsten Medienkonzerns der Türkei, das neben dem Nachrichtensender NTV, auch Massensender wie Star TV zu seinem Aufgebot zählt. NTV zeigte während der grössten Eskalation am Freitag eine Dokumentation über Adolf Hitler, später gab es eine Talkrunde. Star TV strahlte derweil eine Miss-Wahl aus. Nicht weniger verschwiegen waren die Konkurrenten. Während CNN International einen Reporter mitten im Getümmel in Taksim live berichten liess, zeigte CNN Turk, wie man Steaks zubereitet.
"Ich bin derzeit in London, ich lese im Guardian, was in der Türkei passiert, sehe bei BBC, was auf den Strassen passiert, aber unsere TV-Sender zeigen nichts. Wie kann das sein?", fragt Abdullatif Sener. Der Politiker ist Gründungsmitglied der Regierungspartei AKP und jahrelanger Weggefährte und Vertrauter des türkischen Premier Ministers Recep Tayyip Erdogan. Sie gingen den gleichen Weg, lernten dieselbe Ideologie, aber Sener hat sich längst von seinem einstigen treuen Freund distanziert.
Sener gehört zu den Menschen, die Erdogan als seine Gegner sieht. Wie eigentlich jeder, der nicht zur AKP gehört oder sie wählt. Das Protestvolk in Istanbul bezeichnete der Premierminister abwechselnd als Illegale, Provokateure oder Marginale. Das türkische Volk solle nicht darauf reinfallen. Die Bewegung würde von "extremen Elementen" gesteuert, sagte Erdogan am Freitag vor seiner Abreise nach Nordafrika, wo er trotz grosser Eskalation im eigenen Land bis Donnerstag bleiben will. Als Anfang Mai bei einem Terroranschlag im südlichen Reyhanli mehrere Menschen starben, flog Erdogan einen Tag später in die USA.
Dabei brachten die jüngsten Proteste Gruppen zusammen, die bislang nicht mal in einem Atemzug genannt werden wollten. Symbolisch steht dafür der Schulterschluss der rivalisierenden Anhänger der Istanbuler Sportvereine Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray. Die sogenannten Ultra-Gruppierungen organisierten sich am Freitag kurzerhand zu einer gemeinsamen Demonstration, ehe sie in der Nacht Seite an Seite Gefechte gegen die Polizei führten.
Fussballfans solidarisieren sich
Es gibt Geschichten, wie die Rettungsaktion von Fenerbahce-Fans, die in gewaltsame Polizeigewahrsam genommen und von Galatasaray-Ultras befreit wurden. "Ich bin morgens mit einem Fenerbahce-Trikot aus dem Haus gegangen, abends mit einem Galatasaray-Schal war ich daheim", twitterte ein Fenerbahce-Fan. "Tayyip, do you know Istanbul United?", heisst es auf einem Banner. Dargestellt werden nicht nur Fans, die Seite an Seite einen Marsch anführen, sondern auch ein Wappen, das aus den Logos aller drei Klubs zusammengestellt wurde. "Wir werden diesen Weg konsequent gehen", schreibt "12 Numara", eine der wichtigsten Fangruppen Fenerbahces.
Auch andere Gruppierungen gesellten sich auf die Strassen. In Trabzon protestierten Rechte und Linke gemeinsam, während sich wiederum in Istanbul die "Revolutionären Moslems" auf die Strasse begaben. Viele kopftuchtragende Frauen waren zu sehen, so dass es längst nicht nur ein Kampf gegen die Islamisierung des säkularen Staats ist. Vielen ist dieser Prozess ein Dorn im Auge. Erdogan verfolgt schon seit seiner Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul eine sehr konservative Führungsstrategie. Dass er in infrastrukturellen und wirtschaftlichen Bereichen grosse Erfolge feierte, brachte ihm viele Pluspunkte ein, so dass auch seine Ideale für eine Gesellschaft Anklang fanden.
Allerdings wuchs laut Kritikern mit der steigenden Unterstützung auch die Macht, die Erdogan, der seit 2002 Premierminister des Landes ist, auf eine sehr autoritäre Art und Weise nutzt. Zuletzt liess er die Alkoholgesetze nochmals verschärfen, Ausschank und Verkauf wurden eingeschränkt, Werbung dürfen Alkoholhersteller nicht mehr machen. Dass viele Medien nur noch sehr einseitig berichten und meinungsstarke Journalisten kaum noch eine prominente Plattform bekommen, wird ebenso Erdogan zugeschrieben. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Terror: Die angedachte Lösung des Kurdenproblems, wie es Erdogan seit seinem Amtsantritt nennt, fand zunächst grosse Unterstützung. Erdogan brach einige Tabus. Dass die Türkei in dieser Phase aber Terrorakten von Seiten der PKK zum Opfer fiel, sorgt im patriotischen Land für Wut.
Extremisten mischen mit
Dass sich bei den Protesten in Istanbul nun auch Extremisten der PKK oder gewaltbereiten Mitglieder der kommunistischen Partei TKP unter die Menschen mischten, nahm Erdogan als Indiz dafür, dass es sich nicht um einen Aufstand des Volkes handle, sondern andere Kräfte dahinterstecken. Am Sonntagabend wurde in Izmir ein AKP-Haus in Brand gesetzt. Ein Akt extremer Gruppen, die diese Situation ausnutzen und der eigentlichen Bewegung schaden.
Erdogan zeigt sich trotz der übertriebenen Härte der Sicherheitskräfte nicht einsichtig und droht unterschwellig mit einem Gegenschlag. "Wir halten 50 Prozent in ihren Wohnungen auf. Wir sagen: 'Bleibt ruhig'." Am Sonntagabend waren in Istanbul Unbekannte mit Schlagstöcken unterwegs – Seite an Seite mit der Polizei. Von Deeskalation keine Spur. Für einen Hoffnungsschimmer sorgte Präsident Abdullah Gül: "Wir haben die Botschaft des Volkes erhalten." Sie war nie lauter.
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