In der Schweiz standen bisher die persönliche Freiheit und die Rechte der Bürger über allem. Weitreichendere Kompetenzen für den Nachrichtendienst wären undenkbar gewesen. Was hat die Stimmbürger veranlasst, nun dafür zu stimmen, dass der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) auch in der Privatsphäre jeden einzeln schnüffeln darf?

Mehr aktuelle News

Flüchtlinge, Terrorismus und Krieg sorgen auch hierzulande für Unsicherheit in der Bevölkerung. Noch hat die Eidgenossenschaft zwar keinen terroristischen Anschlag erlebt, doch die Gefahr ist zumindest gefühlt näher gerückt und fassbar geworden.

Paris, Nizza oder ein Dorf in der bayerischen Provinz: Die Dschihadisten schlagen offensichtlich völlig willkürlich zu. Das nächste Mal passiert ein Anschlag vielleicht irgendwo in den Schweizer Alpen.

Die Studie "Sicherheit 2016" der Militärakademie und des "Center for Security Studies" der ETH Zürich ist das Wasser auf den Mühlen der verängstigten Bürger. Demnach antworteten drei Viertel der Befragten, dass die weltpolitische Lage in den nächsten fünf Jahren düsterer und angespannter wird.

Die Sicherheit zählt inzwischen mehr als die Freiheit: Zwei Drittel der Befragten sind bereit, Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit hinzunehmen, damit der Terrorismus "mit allen Mitteln" bekämpft werden kann.

In der Schweiz ist die Skepsis gegenüber staatlicher Überwachung besonders gross. Warum ist das Schweizer Volk so erpicht auf die persönliche Freiheit und die Rechte, die bis zur Abstimmung am Sonntag über alles standen?

Die tiefe Abneigung gegen staatliche Überwachung jeglicher Art war eine Folge des Fichenskandals. Anfang 1989 wurde bekannt, dass die Bundesbehörde jahrzehntelange hunderttausender Schweizer bespitzelt hatte. Auf über einer Million Karteikarten – sogenannte Fichen – und tausenden von Akten waren die Informationen zusammengetragen worden.

Um beim Staatschutz vermerkt zu werden, genügte es, wenn man an einer Demonstration teilgenommen, sich gewerkschaftlich engagiert oder neben einem verleumderischen Nachbar gewohnt hatte.

1990 demonstrierten 35'000 Personen gegen die Fichierung, die "Volksinitiative gegen den Schnüffelstaat" wurde aufgegleist, Intellektuelle einigten sich auf einen Boykott der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft.

Welche Befugnisse hatte der NDB bisher?

Wenig. Nicht einmal die Überwachung des Telefonverkehrs potenzieller Terroristen ist in der Schweiz erlaubt, solange es nur einen Verdacht gibt.

Diese Zurückhaltung erscheint heute nicht mehr zeitgemäss - einerseits wegen der veränderten Bedrohungslage im Bereich des Terrors und andererseits weil die derzeitigen Möglichkeiten auch als Folge der Revolution bei den Informationstechnologie ungenügend sind. Heute ist der Nachrichtendienst stark auf Informationen ausländischer Dienste angewiesen.

War darf der Nachrichtendienst zukünftig?

Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) erhält nun erheblich mehr Kompetenzen. Bisher durfte er Personen nur in der Öffentlichkeit beobachten. Künftig darf er Telefongespräche abhören, Privaträume durchsuchen und verwanzen, in Computer eindringen und Ortungsgeräte verwenden.

Das Gesetz ermöglicht dem Nachrichtendienst auch die Auswertung von Daten aus der Internetkommunikation. Ins Visier des Dienstes könnte dadurch geraten, wer bestimmte Begriffe in E-Mails erwähnt.

Das neue Gesetz gibt dem NDB nun die Möglichkeit, immer dann genauer hinzuschauen, wenn er eine Person für gefährlich hält. Wenn er seine neuen Kompetenzen im richtigen Fall zum richtigen Zeitpunkt und mit dem richtigen Augenmass einsetzt, kann er damit womöglich tatsächlich den einen oder anderen Anschlag verhindern.

Welchen Einfluss hatte die Politik auf den Entscheid der Abstimmung? Und werden auch die Überwacher überwacht?

Die Regierung und das Parlament haben sich den Vertrauensbeweis ihrer Stimmbürger mit zwei gewichtigen Versprechen "erkauft".

Erstens haben sie versichert, dass die neuen Überwachungskompetenzen pro Jahr nur etwa in einem Dutzend Fallkomplexen zum Einsatz kommen. Zweitens haben sie versprochen, den Nachrichtendienst künftig viel strenger zu kontrollieren als bisher. Laut Gesetz soll rund ein halbes Dutzend Gremien die Überwacher überwachen.

Wer steckt hinter dem Referendum?

Lanciert wurde das Referendum vom "Bündnis gegen den Schnüffelstaat". Dabei haben sich verschiedene Organisationen und Parteien zusammengeschlossen, von der Juso bis zu den Grünen und zur Piratenpartei und von der Gewerkschaft Syndicom bis zu den demokratischen Juristen.

Hinzu gesellte sich auch noch die "Digitale Gesellschaft", eine Allianz aus an Netzpolitik interessierten Kreisen. Die Referenten rechneten fest damit, dass die Stimmbürger gegen die Ausweitung der Kompetenzen stimmen würden.

Wie argumentieren die Befürworter?

Die Befürworter erachten es als wichtig, dass der Nachrichtendienst die nötigen Mittel erhält. Und sie betonen, dass das Gesetz kein Freipass sei: Der Nachrichtendienst dürfe auch nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes nicht wahllos Telefongespräche abhören und Informatiksysteme infiltrieren.

Es müsse dafür eine konkrete, schwere Bedrohung vorliegen, die Überwachungsmassnahmen müssten vom Bundesverwaltungsgericht genehmigt und vom Vorsteher des Verteidigungsdepartementes sowie vom Sicherheitsausschuss des Bundesrats freigegeben werden.

Was sagen die Gegner?

Alle würden überwacht, nicht nur wenige Verdächtige, wie häufig behauptet werde: Instrumente wie die Vorratsdatenspeicherung seien Mittel der Massenüberwachung.

Mit dem Einsatz von Staatstrojanern werde es dem Nachrichtendienst erlaubt sein, in fremde Computer einzudringen und Überwachungssoftware zu installieren. Für die Verfolgung von terroristischen Aktivitäten oder der organisierten Kriminalität sei das unnötig.

Heute seien bereits die Bundesanwaltschaft und die kantonalen Polizeibehörden zuständig, die über genügend Mittel verfügten. Darüber hinausgehende staatliche Überwachung ohne konkreten Verdacht unterhöhlten den Rechtsstaat.

Ist die Angst um die Privatsphäre begründet?

Gerade der Blick in die Nutzungsbestimmungen von Google, Facebook oder Sport- und Gesundheits-Apps zeigt, wie selbstverständlich die Preisgabe von höchstpersönlichen Daten geworden ist, auch dann, wenn die Folgen nicht abschätzbar sind.

Zwar lassen sich privatrechtliche Vertragsbestimmungen nicht mit staatlichen Gesetzen gleichsetzen, denen sämtliche Bürgerinnen und Bürger unterworfen sind, doch diesem Gesetz darf man zustimmen. Wer Angst um seine Privatsphäre hat, sollte besser auf sein Facebook-Konto achten.

Was sind die Instrumente des Nachrichtendienstes?

Mit dem Nachrichtendienstgesetz (NDG) darf der Geheimdienst in Computer und Netzwerke – auch im Ausland – eindringen. Der NDB könnte damit anderen Staaten den Cyberkrieg erklären und die schweizerische Neutralität verletzen.

Das Eindringen in Computer würde auch mit Trojanern erfolgen, wie sie von kriminellen Hackern eingesetzt werden. Das NDG erlaubt dem Geheimdienst vollen Zugriff auf die umfassenden Vorratsdaten der Telekommunikation.

Für jede Person in der Schweiz wird während mindestens sechs Monaten ohne Anlass oder Verdacht gespeichert, wer wo und wann mit wem kommuniziert hat.

Hintergrund:
Fichenskandal:
Der Fichenskandal war eine jahrzehntelange Bespitzelung hunderttausender Schweizer durch die Bundesbehörden, die 1989 publik geworden war.
ETH-Sicherheitsstudie:
Die Jahresstudie "Sicherheit", die von der Militärakademie an der ETH Zürich und dem Center for Security Studies (CSS) jeweils gemeinsam publiziert wird, dient der Ermittlung langfristiger Trends in der aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbildung in der Schweiz. Sie basiert auf im Jahresrhythmus durchgeführten repräsentativen Befragungen.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.