Russlands Präsident Wladimir Putin schickt Truppen auf die Krim, die internationale Empörung ist riesig. So wurde bereits der für Juni geplante G8-Gipfel in Sotschi abgesagt. Was steckt hinter Putins Säbelrasseln und wie gefährlich ist die Lage? Wir haben mit dem Osteuropa-Experten Stephan Meuser, Leiter des Kiewer Büros der Friedrich Ebert Stiftung, gesprochen.
Herr Meuser, merken Sie in Kiew etwas von der angespannten Lage?
Stephan Meuser: In Kiew selbst war das Bürgerkriegsszenario der vorletzten Woche wesentlich bedrohlicher und allein schon geografisch "näher". Das ändert aber nichts daran, dass die aktuelle Situation hier trotzdem als bedrückend empfunden wird. Alle, mit denen man spricht, können nicht verstehen, wie so etwas möglich ist im 21. Jahrhundert.
Wie sehen Sie die Situation verglichen mit der Georgienkrise 2008, wo
Man hat den Eindruck, dass das Ganze einem ähnlichen Drehbuch folgt. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass diesmal überhaupt keine Unterdrückung der betreffenden Menschen, der Bewohner der Krim oder der Ostukraine, vorlag. Es gab keinerlei Provokation oder Aggression aus Kiew, die als Vorwand tatsächlich für einen völkerrechtlich belastbaren Grund herhalten könnte. Selbst ein geändertes Sprachengesetz, was politisch unklug war, kann keine Annexion oder militärische Besetzung von Teilen eines anderen Landes rechtfertigen.
Wie sollte Ihrer Meinung nach jetzt der Westen, speziell die EU reagieren? Verschlimmern Sanktionsdrohungen nicht noch die Situation?
Der von Aussenminister Franz-Walter Steinmeier aufgezeigte Weg über die OSZE und die Schaffung einer Kontaktgruppe sind wichtige Schritte, die aber nur dann weiter führen, wenn Russland zustimmt und sich auch aktiv daran beteiligt.
Sanktionen haben in der Geschichte selten etwas gebracht, vor allem, wenn man hinterher oder nebenher noch mit demjenigen reden will, den man sanktioniert. Sie sind daher nicht der geeignete Einstieg in den jetzt anlaufenden diplomatischen Prozess. Symbolhafte Handlungen, wie die Absage der Vorbereitungen zum G 8–Gipfel, sind sinnvollere erste Schritte auf der aussenpolitischen Eskalationsleiter.
Wie erklärt sich denn Putins brachiales Handeln auf der Krim? Will er mit der geplanten Eurasischen Union eine Art neues Zarenreich schmieden?
Russland hat klar gesagt, dass es die neue Regierung in Kiew für illegitim hält. Wenn man einen Nachbarstaat für "nationalistisch unterwandert" hält, rechtfertigt das aus der Moskauer Perspektive wohl leider auch solches Handeln.
Die Eurasische Union ist kein neues Zarenreich, sondern das wirtschaftspolitische Integrationsprojekt zur Reparatur der "grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts (Putin)", des Zerfalls der Sowjetunion. An diesem Projekt ist aus meiner Sicht für sich genommen auch nichts Verwerfliches. Nur ist es kontraproduktiv, seine Nachbarn mit Gewalt dort hinein zu zwingen.
Ist der Eindruck falsch, dass sich Putin vor allem den Zugang zur Schwarzmeerflotte sichern will und sehen Sie diesen durch eine neue Regierung in Kiew ernsthaft gefährdet?
Der ungehinderte Zugang hätte Russland vertraglich ohnehin noch bis 2047 zugestanden. Das allein taugt also wohl kaum zur Begründung. Und die neue Regierung enthält eine Menge alter Bekannter, mit denen man sich in Moskau arrangieren könnte, wenn man wollte.
Der Osten des Landes war ja von je her schon eher russlandfreundlich. Halten Sie eine Spaltung der Ukraine noch für vermeidbar?
Die Spaltung wünscht im Lande, wie die am Sonntag in allen Landesteilen durchgeführten Demonstrationen zur Erhaltung der Einheit der Ukraine nochmals gezeigt haben, kaum jemand. Sie wird auch vom Westen überschätzt und gelegentlich geradezu medial herbeigeredet. Sprachgrenzen und kulturelle Unterschiede bedeuten noch lange keinen Willen, nicht mehr miteinander in einem Land leben zu wollen. Sonst gäbe es Belgien, das bald 200 Jahre alt wird, und die Schweiz, immerhin auch schon 700 Jahre alt, nicht mehr.
Der Osten und Süden des Landes hätte nicht ein Vierteljahrhundert staatliche ukrainische Unabhängigkeit hingenommen, wenn es tatsächlich so grosse Fliehkräfte hin zu Russland gäbe, wie immer behauptet. Abspaltungen einzelner Regionen hätten sonst schon in den frühen Neunziger Jahren – und zwar ohne Blutvergiessen – geregelt werden können.
Wäre für den Fall eine an die EU angelehnte Westukraine ohne die Industrie im Osten eigentlich wirtschaftlich lebensfähig?
Nur mit grossen Investitionen in Agrobusiness, Tourismus, Infrastruktur, IT-Industrie und "grüne Energie". Und die könnten nur aus der EU und dem Westen kommen.
Momentan werden viele Parallelen gezogen zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ...
Weil wir die hundertjährige Wiederkehr des Kriegsbeginns haben. Ansonsten sehe ich inhaltlich zum ukrainischen Fall keine Parallelen; es gibt keine Vielzahl europäischer Grossmächte mehr, die in einem komplizierten Bündnissystem um ihre Positionen rangeln und innerlich kriegsbereit sind.
Das viel beschworene Friedensprojekt EU hat zumindest nach innen gerichtet in dieser Hinsicht positiv gewirkt. Ob Russland als ausserhalb der EU stehende Macht dieselben Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen hat, weiss ich allerdings nicht.
In Sotschi steht im Juni nicht nur das G8-Treffen an, sondern zuvor auch die Paralympics. Sollten westliche Sportler hier mit einem Boykott ein deutliches Zeichen setzen?
Sportboykotte finde ich persönlich wenig hilfreich. Schon das westliche Fernbleiben von den Sommerspielen 1980 in Moskau wegen des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan hat im Rückblick Afghanistan kaum geholfen. Stattdessen könnte sich aber die FIFA mal überlegen, ob die Fussball-WM 2018 wirklich nach Russland (und die vier Jahre später wirklich nach Katar) vergeben werden muss. Die Stellschraube sollte bei der Vergabe von Sportveranstaltungen in autoritär regierte Staaten ansetzen.
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