Das Gespenst des Separatismus geht um in Europa: Immer mehr Regionen denken mehr oder weniger laut über die Unabhängigkeit von ihren derzeitigen Nationalstaaten nach. Haben Volksgruppen wie Katalanen, Schotten und vielleicht sogar Bayern in einigen Jahren eigenständige Staaten? Ein Überblick über die Sezessions- und Unabhängigkeitsbewegung in Europa.

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Schottland

In Schottland ist die Bewegung, die einen eigenen Staat fordert, am weitesten fortgeschritten. Die dortige Regierung unter Alex Salmond (SNP) lässt die Schotten am 18. September 2014 darüber abstimmen, ob sie weiter von London aus regiert werden wollen oder eine völlige staatliche Eigenständigkeit anstreben.

Die Wähler werden dabei nur mit Ja oder Nein auf folgende Frage antworten: "Soll Schottland ein unabhängiges Land werden?" Die britische Regierung hatte sich im Oktober 2012 mit dem Referendum einverstanden erklärt. Die schottische Regierungspartei SNP hätte sich als dritte Abstimmungs-Alternative auch eine "maximale Eigenständigkeit" vorstellen können, doch diese Kompromissformel, der möglicherweise die meisten Wähler zugestimmt hätten, fiel dem "Deal" mit London zum Opfer.

Würden die Wähler mehrheitlich mit Ja stimmen, wäre die 300-jährige Zugehörigkeit Schottlands zum Vereinigten Königreich beendet. Bei den letzten Umfragen im November 2013 sprachen sich laut Meinungsforschern 38 Prozent der Schotten für und 47 Prozent gegen eine Unabhängigkeit aus. Für den Fall, dass die Bevölkerung im September mehrheitlich für die Eigenständigkeit votiert, hat die SNP-Regierung bereits einen Zeitplan vorgestellt, der den 24. März 2016 als schottischen Unabhängigkeitstag vorsieht. Bis dahin solle auch eine festgeschriebene schottische Verfassung vorliegen.

Katalonien

Hingegen bringen ökonomische Gründe der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien immer mehr Zulauf. Viele Katalanen sind davon überzeugt, dass sie vom spanischen Zentralstaat finanziell ausgeraubt werden und die relativ prosperierende Region im Nordosten Spaniens die ärmeren Regionen des Landes gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise über alle Massen alimentieren muss. Bis zu zwölf Milliarden Euro jährlich soll die Region mehr abgeben müssen, als sie über Leistungen von der Zentralregierung wieder erhält.

Folglich stärkten die Wähler bei der Regionalwahl im November 2012 separatistische Parteien. Der katalanische Ministerpräsident Artur Mas stützt seine Mehrheit nun auf Parteien, die offen einen Austritt aus Spanien fordern. Mas selbst hatte zuvor ein Referendum für den Fall seiner Wiederwahl angekündigt, steht dabei jedoch in offenem Widerspruch zur Regierung in Madrid, die nach eigener Auffassung alleine das Recht hätte, eine Volksabstimmung einzuberufen. König Juan Carlos sprach gar von einem "Hirngespinst" der Katalanen.

Der Streit um die Unabhängigkeit Kataloniens dürfte also schon bald eskalieren - auch wenn ein weiterer wichtiger Akteur verzweifelt versucht zu bremsen. Die EU-Verträge sehen eine Sezession nicht vor. So ist etwa völlig unklar, ob ein neu entstandenes Katalonien - oder auch Schottland - automatische Mitglied in der EU wäre. Die Verträge haben diesen Fall schlicht nicht vorgesehen. Allein in Katalonien sollen rund 4.000 multinationale Konzerne ihren Sitz haben - kaum vorstellbar, dass die EU eine solche Region gerne aus ihren Staatenbund entlassen würde.

Baskenland

Einen Konflikt mit der Zentralregierung in Madrid riskierte auch schon das kleinere und wirtschaftlich deutlich unbedeutendere Baskenland. Das dortige Regionalparlament hatte sich im Jahr 2008 für eine Volksabstimmung über den Verbleib bei Spanien ausgesprochen. Die damalige sozialistische Regierung in Madrid rief den Verfassungsgerichtshof an, der die Kompetenz für ein solches Referendum alleine der spanischen Zentralregierung zusprach. Die Volksabstimmung über eine mögliche Unabhängigkeit fand dann nicht statt.

Der Konflikt zwischen Basken und Spaniern wird dadurch komplizierter, dass Teile der Unabhängigkeitsbewegung im Untergrund operieren und Terroranschläge ausüben. Seit 1968 kämpft die Untergrundorganisation ETA für einen von Spanien unabhängigen baskischen Staat. Bei etwa 4.000 Terroranschlägen kamen mehr als 830 Menschen um Leben. Im Oktober 2011 erklärte die ETA zwar einen Gewaltverzicht, legte ihre Waffen aber nicht nieder.

Flandern und Wallonien

Belgien ist ein Staat mitten in Europa, der vor seiner Auflösung zu stehen scheint. Und das, obwohl in Brüssel die wichtigsten politischen Entscheidungen für das vereinte Europa getroffen werden. Der Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsteilen aus Flamen, die niederländisch sprechen und Wallonen, die französisch sprechen, hat hier eine lange Tradition und ist seit 2007 deutlich eskaliert. So werden seither etwa die Medien nur noch in der jeweils eigenen Sprache genutzt und Autobahnen werden ausserhalb Brüssels nur noch einsprachig gekennzeichnet. Nach einer langen politischen Blockade nach den Wahlen im Juni 2007 - aufgrund von flämischen Forderungen nach mehr Eigenständigkeit - waren laut einer Umfrage vom September des selben Jahres nur noch 49,6 Prozent der Flamen für den Erhalt des belgischen Zentralstaates.

Ökonomische Gründe sind auch für die Trennungsbestrebungen innerhalb Belgiens zumindest mit verantwortlich. Im nördlichen Flandern erhalten die Nationalisten Zulauf, weil viele Menschen glauben, dass der ärmere Süden zu stark alimentiert wird. Nach den Wahlen im Juni 2010, bei den die flämischen Nationalisten stärkste Kraft wurden, kam es zu einer Staatskrise, die erst mit der Vereidigung der aktuellen Regierung im Dezember 2011 beendet werden konnte. Der erdrutschartige Sieg der Nationalisten bei der flämischen Kommunalwahl im Jahr 2012 wurde von politischen Beobachtern als Zeichen dafür gewertet, dass auch die nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2014 ähnlich ablaufen könnten. Dann wäre die Einheit des Landes erstmals ernsthaft gefährdet.

Ein grosses Problem bei einer möglichen Aufspaltung Belgiens wäre jedoch die Region um die Hauptstadt Brüssel. Diese ist vollständig von Flandern umschlossen - ihre Bewohner sprechen aber mit grosser Mehrheit Französisch oder eine andere Sprache. Bei der Regionalwahl 2009 entfielen in Brüssel 88,8 % der Stimmen auf französischsprachige und nur 11,2 % auf niederländischsprachige Parteien.

Norditalien

"Los von der Diebin Rom!" - mit diesem Schlachtruf zogen schon Ende der 1980er Jahren Norditaliens "Ligen" in die politische Auseinandersetzung. Die Lega Nord forderte lange die Abspaltung des reichen Nordens von Italien und huldigte unter ihrem Vorsitzenden Umberto Bossi dem Mythos einer eigenen "padanischen" Nation. Mittlerweile verlangt die Lega unter dem Schlagwort "Devolution" nur noch eine Föderalisierung des Staates.

Seit der Regionalwahl im Februar 2013 werden alle drei grossen Industrieregionen im Norden Italiens von der Lega Nord regiert, die Piemont, die Lombardei und Venetien nun zu einer "europäischen Makroregion" verschmelzen will. 70 Prozent des italienischen Bruttosozialprodukts werden dort erwirtschaftet und die Lega Nord will, dass "mindestens 75 Prozent" dieses Geldes auch in der Region verbleiben und nicht mehr von Rom verwaltet werden - eine Art wirtschaftspolitische Sezession droht.

Südtirol

Reinhold Messner ist der wohl bekannteste Südtiroler und fühlt sich gar keiner Nation zugehörig. "Ich bin kein Deutscher, kein Österreicher, kein Italiener – sondern ich bin Südtiroler. Eventuell noch Tiroler", sagte er im Jahr 2011 der "Welt". Für irgendeine politische Sache, insbesondere Unabhängigkeitsbestrebungen von Italien, will er sich nicht vereinnahmen lassen. Dennoch gärt es in der seit 1992 weitgehend autonomen Region im Norden Italiens, in der 70 Prozent der Bevölkerung deutschsprachig sind.

Vor beinahe 100 Jahren wurde Südtirol Österreich entrissen und als Kriegsbeute Italien zugesprochen. Unter Mussolini wurde Südtirol italianisiert, die Konflikte aber blieben und gipfelten in gewalttätigen Sabotageakten in den 1960er Jahren. Mit der Autonomie Südtirols im Jahr 1972 kehrte Ruhe ein, schien ein friedliches Zusammenleben zweier Kulturen, zweier Sprachen machbar. Schliesslich geht es Südtirol wirtschaftlich sehr gut und 90 Prozent der Staatseinnahmen verbleiben auch in den Kassen des Landes. Die Selbstbestimmung scheint hier weiter verwirklicht als in anderen Regionen. Zuletzt wählten dann auch nur rund 14 Prozent die Freiheitlichen, die einen "Freistaat Südtirol" wollen.

Doch jetzt heisst es immer häufiger: "Nichts wie weg von Italien!" Mit der Krise Europas kommt auch wieder der Wunsch nach Unabhängigkeit zurück - die Separatisten haben Aufwind wie schon lange nicht mehr. Dies ist nicht zuletzt der europäischen Staatsschuldenkrise geschuldet, die die Regierung Monti in Rom auf die Idee brachte, die Töpfe im reichen italienischen Norden anzuzapfen. Ein gefundenes Fressen für die Sezzionisten, die sogar den Vorschlag aufbrachten, sich von Italien "freizukaufen", indem das Land seinen Anteil von 15 Milliarden an den rund 2.000 Milliarden Euro Schulden Italiens abbezahlten sollte.

Bayern

Im August 2012 präsentierte Wilfried Scharnagl, grosser alter Mann der CSU und einst Intimus des legendären bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauss, sein Buch mit dem Titel "Bayern kann es auch alleine". Darin beklagt er, Bayern sei das Opfer einer doppelten Transferunion - einmal lande viel Geld im Länderfinanzausgleich und dann gehe noch viel Geld nach Europa. Und dann fällt der Hammer: "Undenkbares darf oder muss gedacht werden" - damit meint der ehemalige CSU-Vordenker einen Austritt Bayerns aus Deutschland und vielleicht sogar aus der Europäischen Union.

Doch in Deutschland glaubt wohl niemand, dass die CSU jemals ernsthaft einen Austritt Bayerns aus Deutschland fordern wird. Ein bayrischer Separatismus wäre laut einer Umfrage von ODC Services auch nicht mehrheitsfähig - gerade einmal zwölf Prozent der deutschlandweit Befragten befürworten eine Loslösung Bayerns von Deutschland. Selbst unter den Anhängern der CSU in Bayern sind es nur 31 Prozent. Doch warum dann der Vorstoss, der so offensichtlich chancenlos zu sein scheint?

Vielleicht dienen Scharnagls Vorschläge, die auch immer wenig konkret bleiben, in Wahrheit ja auch einem anderen Ziel: In einem vereinten Europa, dass immer mehr politische Kompetenzen vom Bund übernimmt, droht dem Bundesland Bayern ein politischer Bedeutungsverlust. In einer Zeit, in der Politik immer mehr in virtuellen Räumen zu verschwinden droht, dient der Ruf nach einer politischen Eigenständigkeit - wenn auch nicht konkret gefordert - vielleicht eher dem Zweck, die Deutungshoheit an den Stammtischen zurückzugewinnen - schliesslich stehen Wahlen in Bayern an. Und Scharnagl verkennt einen weiteren Aspekt: Welchem Staat würden sich eigentlich die Franken zugehörig fühlen, deren Region erst ab 1803 in das von Napoleons Gnaden zum Königreich aufgestiegene Bayern einverleibt wurde? Es bleibt zu hoffen, dass in Deutschland - und auch in Europa - kluge Köpfe verhindern können, dass eine neue Zeit voller Kleinstaaten und Fürstentümer droht.

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