Dem Coronavirus wird europaweit mit bisher nicht gekannten Massnahmen entgegengetreten. Ungarn, Polen und Grossbritannien gehen allerdings noch ein Stück weiter: Die dortigen Regierungen nutzen die Krise, um ihre Macht auszudehnen.
Die Lage ist ernst, europaweit. Um dem Coronavirus Herr zu werden und eine weitere Ausbreitung der von ihm verursachten Lungenkrankheit COVID-19 so weit wie möglich zu verlangsamen, haben Regierungen in ganz Europa zu drastischen Massnahmen gegriffen.
Egal ob Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich oder die Schweiz: Die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger werden temporär gravierend eingeschränkt, um die Gesellschaft insgesamt, aber vor allem um besonders gefährdete Risikogruppen und das medizinische Personal zu schützen.
Allerdings gehen in einigen Ländern die Staats- und Regierungschef darüber hinaus. Unter dem Vorwand, das Virus SARS-CoV-2 und die Krankheit COVID-19 einzudämmen, beschneiden sie der Macht wegen teils drastisch die Bürgerrechte oder nehmen sogar eine Gefährdung der Gesundheit der Bürger in Kauf. Ein Blick nach Ungarn, Polen und Grossbritannien.
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Ungarn: Diktatur in einer Woche?
"Jeder trägt Verantwortung, jeder muss seinen Beitrag leisten. Statt Streit und Sticheleien ist jetzt die Zeit des Zusammenhalts gekommen", ermahnte Ungarns rechtspopulistischer Premierminister Viktor Orbán die Parlamentsabgeordneten am Montag in einer Rede. Orbán und seine Partei Fidesz haben das Land bereits in den vergangenen zehn Jahren nach ihrem Willen umgebaut. Die unabhängige Presse und die Opposition sind marginalisiert, gegen Ungarn läuft ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren wegen der Gefährdung von EU-Grundwerten.
Inmitten der Coronavirus-Krise hat die ungarische Regierung nun einen weiteren, einschneidenden Gesetzentwurf vorgelegt. Der würde Orbán ermöglichen, im Rahmen eines Notstands von womöglich unbegrenzter Dauer per Dekret zu regieren. Denn der auf der Webseite des Parlaments veröffentlichte Gesetzentwurf sieht vor, dass die Regierung den am 11. März wegen der Pandemie verhängten Notstand ohne die Zustimmung des Parlaments unbegrenzt verlängern kann.
Die Regierung soll damit das Recht erhalten, "die Anwendung bestimmter Gesetze per Dekret auszusetzen", feste Vorgaben nicht einzuhalten und "andere aussergewöhnliche Massnahmen einzuführen, um die Stabilität des Lebens, der Gesundheit, der persönlichen und materiellen Sicherheit der Bürger wie der Wirtschaft zu garantieren", wie es in dem Gesetzentwurf heisst.
Orbáns Kritiker befürchten, dass das Gesetz das Machtgefüge in Ungarn weiter zugunsten der Regierung verändern würde. Für Beunruhigung sorgt auch eine Klausel in dem Entwurf, die die Möglichkeit einer "erzwungenen parlamentarischen Pause" vorsieht.
Das geplante Gesetz sieht zudem Änderungen am Strafrecht vor, sodass bis zu acht Jahre lange Haftstrafen bei Verstössen gegen die Corona-Quarantänemassnahmen verhängt werden könnten. Auch die Einführung von Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren für die Verbreitung von "Falschnachrichten" über das Coronavirus und über die zu seiner Eindämmung verhängten Massnahmen sind vorgesehen.
Das Parlament soll in der kommenden Woche über das Gesetz abstimmen. Für dessen Verabschiedung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig – und Fidesz besitzt diese knapp. Das erklärt Orbáns Appell an die eigenen Reihen: "Ich brauche 133 mutige Leute, die 133 mutigsten Leute des Landes", zitiert ihn die regierungskritische ungarische Website "444.hu".
Polen: Regierung riskiert das Leben ihrer Wähler
In Polen macht sich die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Corona-Pandemie für den Wahlkampf zunutze. "PiS will die Präsidentschaftswahl am 10. Mai unbedingt durchziehen", sagt der polnische Politikwissenschaftler Bartosz Rydliński von der Warschauer Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität unserer Redaktion. Alle Kandidaten ausser Präsident Andrzej Duda – PiS-Politiker und erneut Kandidat – drängen auf eine Verschiebung in den Herbst.
"Diese Wahlen müssen zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden. Wir haben eine Krise zu bekämpfen", sagte die Präsidentschaftskandidatin der grössten Oppositionspartei, Malgorzata Kidawa-Blonska, der konservativen Tageszeitung "Rzeczpospolita".
Doch PiS sperrt sich gegen eine Verlegung. Es sei noch zu früh für eine solche Entscheidung, sagte Vize-Regierungschef Jaroslaw Gowin am Montag laut Nachrichtenagentur PAP. "Man muss alles tun, damit die Wahlen am 10. Mai stattfinden können." Amtsinhaber Duda führt derzeit in allen Umfragen vor seinen Mitbewerbern.
Laut Politologe Rydliński spekuliere PiS darauf, dass im Mai die Spitze der Corona-Pandemie überwunden ist. "Zudem bekommen die Regierung und Präsident Duda in der gegenwärtigen Krise viel Vertrauen entgegengebracht, was sie natürlich für sich Nutzen wollen." Faktisch haben zwar alle Parteien ihren Wahlkampf abgebrochen, doch aufgrund seines Amtes ist Duda trotzdem ständig in den Medien präsent.
"Statt seine Pflichten als Präsident zu erfüllen, fährt er durchs Land und gefährdet sich, seine Mitarbeiter und andere", kritisierte Kidawa-Blonska von der liberalkonservativen Bürgerkoalition. Auch der Kandidat der konservativen Bauernpartei, Wladyslaw Kosiniak-Kamysz, warf Duda unzulässige Profilierung vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie vor.
"Die Regierung riskiert das Leben ihrer Wähler", betont Rydliński. Ihm zufolge gebe es gerade in den Wahllokalen im ländlichen Raum gar keine Wahlhelfer. So ist es gut möglich, dass die Wahl, sollte sie tatsächlich im Mai stattfinden, angefochten wird. Neuer Streit zwischen Regierung und Opposition ist also schon vorprogrammiert.
Grossbritannien: Putsch der Exekutive
Nach langem Zögern ist auch der britische Premierminister Boris Johnson auf den Kurs seiner europäischen Nachbarn eingeschwenkt. London hat im Kampf gegen das Coronavirus weitreichende Ausgangsbeschränkungen beschlossen, wie Johnson am Montagabend in einer im Fernsehen übertragenen Rede an die Nation erklärte. Landesweit trat eine dreiwöchige Ausgangssperre in Kraft.
Die Massnahmen ähneln zwar jenen in etlichen EU-Staaten, doch die eilig verabschiedete Notverordnung enthält einige Passagen, die die Bürgerrechte ungewöhnlich drastisch beschneiden: So darf die Polizei mutmasslich Infizierte festnehmen und bis zu einem Monat lang in Zwangsisolation stecken. Auch Menschen, die sich Corona-Tests verweigern, können inhaftiert werden.
Zudem soll die "Coronavirus Bill" zwei Jahre lang gelten. Sie kann gegebenenfalls auch noch um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Protesten ebenso aus Reihen der regierenden Tories sollen die Massnahmen nun immerhin alle sechs Monate überprüft werden.
Dennoch bleibt die Opposition skeptisch. "Diese Pandemie sollte nicht als Deckmantel für etwas dienen, das man als Putsch der Exekutive bezeichnen könnte, wenn sie wie geplant voranschreitet", sagte der Labour-Abgeordnete Clive Lewis der linksliberalen Tageszeitung "The Guardian". Er habe insbesondere Bedenken hinsichtlich des Demonstrationsrechts und der Betreuung von Menschen mit Behinderungen. Letzte können laut dem Gesetz festgehalten werden.
Auch Lewis' Kollege Chris Bryant kritisierte das Gesetz, weil es eine Machtverschiebung zugunsten der Regierung und drakonische Zwangsmassnahmen beinhalte. "Nicht selten in der Geschichte kam es vor, dass Regierungen schnell darin waren, sich neue Rechte zu nehmen, aber langsam darin, sie dem Volk zurückzugeben", zitierte der Schweizer "Tagesanzeiger" den Labour-Politiker.
Premier Johnson betonte hingegen, die Regierung werde nach mindestens drei Wochen die Regeln lockern, "wenn es Anzeichen gibt, dass wir dazu in der Lage sind". Dass das aber so komme, sei "keineswegs sicher", bemerkte der "Guardian".
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