Auf den ganz grossen Knall hat man am Ende zwar verzichtet. Trotzdem bleibt die selbsternannte "Friedensmission", mit der Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban die meisten EU-Staaten brüskiert hat, nicht ungestraft.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Adrian Arab sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hat entschieden, dass die geplanten Sitzungen unter der Leitung der ungarischen Ratspräsidentschaft vorerst von der europäischen Spitzenebene boykottiert werden. So sollen an den Treffen keine Kommissare mehr teilnehmen, sondern lediglich ranghohe Beamte. Vermutlich werden auch zahlreiche EU-Staaten diesem Boykottauftrag folgen und statt der zuständigen Minister Staatssekretäre schicken.

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Inhaltlich ist die Bedeutung der Strafmassnahme überschaubar. Auf den informellen Treffen geht es weniger darum, politische Entscheidungen zu treffen oder Beschlüsse zu fassen als darum, schöne Bilder zu erzeugen.

Blickt man auf die Art und Weise, mit der Orban den EU-Ratsvorsitz in den sozialen Medien flankiert, so dürfte ihn die Massnahme dennoch an einer empfindlichen Stelle treffen. Das betrifft vor allem das von Ungarn ausgerichtete EU-Ministerpräsidententreffen am 28./29. August, bei dem sich das Gastgeberland üblicherweise eines intensiven Medienrummels gewiss sein darf. Da die EU an diesem Tag eine Gegenveranstaltung in Brüssel plant, dürfte das Interesse an Budapest diesmal aber gering sein.

EU will sich nicht gespalten zeigen

Die Entscheidung ist ein Downgrade für den Meilensammler Orban, mit dem die EU gleichzeitig an einer vollkommenen Eskalation im Streit mit Ungarn vorbeigeschrammt ist. Eine Rolle mag gespielt haben, dass die Zeiten auch ohne den Streit um Orban kritisch genug sind.

Die EU ordnet sich nach der Europawahl gerade neu, am Donnerstag stellte sich Ursula von der Leyen zur Wiederwahl – und der Krieg in der Ukraine geht unvermittelt weiter. Und dann wäre da noch der Wahlkampf in den USA, der auch nicht gerade nach den Vorstellungen der allermeisten Staats- und Regierungschefs in der EU läuft. In diesen Zeiten Europa vor den Augen der Welt als gespalten darzustellen, hielt man im Brüsseler Berlaymont-Gebäude trotz des Ärgers über Orban wohl für das falsche Signal.

Dass es so weit kommen musste, liegt an der selbsternannten "Friedensmission" für die Ukraine, zu der Orban fünf Tage nach Beginn seiner Ratspräsidentschaft aufgebrochen war. Orban hatte in diesem Rahmen Gespräche mit Chinas Präsident Xi, mit Russlands Präsident Putin und mit dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Trump geführt, den Orban in der Vergangenheit immer wieder als persönlichen Freund bezeichnet hat. Begleitet wurde der Trip von aufwendig produzierten Videoclips, die Orban mit schnellen Schnitten, harter Musik und vor martialischer Kulisse als "Peacemaker" – als Mann des Friedens – aussehen liessen.

Immer wieder waren in diesen Clips auch gelbe Sterne auf blauem Grund im Logo der ungarischen Ratspräsidentschaft zu sehen, was unweigerlich für den Eindruck sorgte, Orban sei als Aussenminister aller 27 EU-Staaten unterwegs. Einzig: Für derartige Verhandlungen hatte Orban gar kein Mandat.

Als Vorsitzender des EU-Rats, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, ist Orban hingegen zu diplomatischer Zurückhaltung verpflichtet. Die Rolle, die Ungarn turnusmässig zugefallen ist, sieht vor, zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermitteln und als "ehrlicher Makler" auf Lösungen und Kompromisse hinzuarbeiten.

Friedensabkommen zu verhandeln oder auf internationaler Bühne für die EU zu sprechen, ist hingegen nicht Bestandteil dieser Rolle. Sie fällt in das Ressort des Aussenbeauftragten Josep Borrell sowie von Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rates.

Nordische Staaten forderten Abwahl Ungarns

Dass Orban sich in der EU gerne als notorischer Querulant inszeniert, ist zwar im Grunde nichts Neues. Mit seiner "Friedensmission" hatte Orban aber vor allem in den Augen der skandinavischen und baltischen EU-Staaten den Bogen überspannt. Sie forderten, Ungarn die Ratspräsidentschaft zu entziehen, wofür eine sogenannte verstärkte qualifizierte Mehrheit notwendig ist, bei der mindestens 20 der 27 Mitgliedsstaaten, die gemeinsam mehr als 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, einem entsprechenden Antrag zustimmen müssten.

In der Kommission war man sich dieser Mehrheit offenbar nicht sicher und verzichtete darauf, eine Abwahl Ungarns voranzutreiben. Nichts, so wohl die Überlegung, wäre in diesen Tagen schlimmer als das Signal zu senden, die EU sei gespalten. Eine klare Ansage aus Brüssel war daher das Maximum, zu dem man sich durchringen konnte. Ob es reicht?

Andreas Bock vom Council of Foreign Relations glaubt, dass Orban ungeachtet der Massnahmen auch in Zukunft versuchen wird, seine "Friedensmission" voranzutreiben. Das gelte insbesondere für den Fall, dass Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen im November gewählt wird.

"Orban missbraucht die Ratspräsidentschaft, weil er sie als Plattform für seine eigenen innen- und aussenpolitischen Interessen nutzt", sagt Bock, der glaubt, dass es bei dem Treffen vor allem darum gegangen sei, eine Nähe zu Putin und Trump zu verdeutlichen.

Inhaltliche Erfolge, die Europa näher an einen Frieden in der Ukraine gebracht hätten, könne man sich von dem Treffen hingegen nicht versprechen, weil "das Ziel eines Waffenstillstands ohne die Einbindung der Ukraine nicht erreicht werden kann", so Bock. Das zeigte sich bereits unmittelbar nach Orbans Besuch in Russland: Kaum war Orbans Flugzeug in Peking aufgesetzt, bombardierte Putin ein Kinderkrankenhaus in Kiew. Mindestens 20 Menschen wurden dabei getötet. Was blieb, war die Erkenntnis: Besonders mässigenden Einfluss auf Putin hatte Orban nicht.

Orban will sich als starker Mann inszenieren

Doch was reitet den Mann, der mit seiner unkoordinierten Aktion nach Ansicht der Kommission die Einheit der EU beschädigt habe? Der Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg, Ulf Brunnbauer, glaubt, dass Orbans Reise vor allem von innenpolitischen Gründen getrieben war.

Orban gehe es darum, seine Macht nach innen abzusichern und sich als ein "Mann des Friedens" gegenüber den eigenen Bürgern zu positionieren. "Viktor Orbans Regierungsstil beruht darauf, Feindbilder zu erfinden und dann der ungarischen Bevölkerung einzureden, nur er könne sie vor äusseren Bedrohungen beschützen", sagt Brunnbauer. "Ich halte die innenpolitische Dimension dieser Reise daher für zentral."

Tatsächlich war der innenpolitische Wind für Orban zuletzt rauer geworden. Mit Peter Magyar und der Tisza-Partei sitzt seiner Fidesz-Partei erstmals seit vielen Jahren ein ernstzunehmender Konkurrent im Nacken, der bei der Europawahl aus dem Stand auf mehr als 30 Prozent kam. Gefährlich ist der konservative Magyar deshalb, weil er zwar politisch im gleichen Lager wie Orban fischt, sich aber explizit gegen die zunehmende Korruption in Ungarn wendet.

Neben der Sorge vor dem politischen Konkurrenten sieht Ungarn-Experte Brunnbauer aber noch ein zweites Motiv: "Es scheint, als ob Orban Ungarn zu klein geworden ist, nachdem er das Land nach seinen Ideen umgebaut hat und seine Partei fest mit dem Staat verwoben hat", sagt Brunnbauer. "Offenkundig glaubt er an seine eigene Bedeutung auf globaler Ebene, vielleicht ein Zeichen von beginnendem Grössenwahn, wie man das bei Autokraten nach vielen Jahren an der Macht oft beobachten kann."

Über die Gesprächspartner:

  • Andreas Bock ist Ungarn-Experte und arbeitet als Head of Communications beim European Council of Foreign Relations. Er lebte und arbeitete jahrelang in Budapest.
  • Prof. Dr. Ulf Brunnbauer ist Historiker. Er ist Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.

Verwendete Quellen:

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