Weltweit haben 370 Millionen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag sexualisierte Gewalt erlebt. Das ist das erschreckende Ergebnis einer Schätzung des Kinderhilfswerkes UNICEF.
Laetitia Bukebo ist 18 Jahre alt und macht vor allem eines: sprechen. Sie spricht in ihrem Heimatland, der Demokratischen Republik Kongo, mit jungen Frauen in Vertriebenencamps, sie spricht mit Mädchen in ihrer Nachbarschaft und an Schulen, sie spricht, damit andere sich trauen, ebenfalls zu sprechen. Darüber, was ihnen widerfahren ist. "Die Gefahr sexualisierter Gewalt ist für diese Mädchen eine tägliche Angst", sagt Laetitia.
Ihre Freunde konnten lange nicht verstehen, warum sie das macht: "Sie haben mir mal gesagt, dass es keinen Sinn hat, Missbrauch anzuzeigen, weil am Ende die Opfer ihre Würde verlieren, während der Täter keine Konsequenzen tragen muss." Doch davon lässt Laetitia sich nicht abhalten. Auch nicht von den Hürden, an die sie gestossen ist: Misstrauen, Angst vor Konsequenzen, Zweifel.
Erhebung der Daten zu sexualisierter Gewalt schwierig
Ein neuer UNICEF-Bericht bestätigt diesen Eindruck: Die Erhebung verlässlicher Daten zu sexualisierter Gewalt ist ein komplexes Unterfangen. Gründe dafür sind soziale Normen, Unbehagen auf beiden Seiten während des Interviewprozesses oder Sicherheitsbedenken, wenn der Täter im eigenen Haushalt anwesend ist.
Was ist sexualisierte Gewalt gegen Kinder?
- Unter sexueller Gewalt versteht man sowohl versuchte als auch vollzogene sexuelle Handlungen an Kindern. Sie führen zu Verletzungen, Schmerzen oder seelischem Leid.
Der Bericht ist eine erste Erhebung dieser Art und bezieht sich auf repräsentative Umfragen aus 120 Ländern, die im Zeitraum von 2010 bis 2022 gesammelt wurden.
Die Schätzungen stützen sich auf verschiedene Datenquellen: zum einen Fragebögen, die eigens von UNICEF entwickelt wurden, um repräsentativere Umfragen weltweit durchführen zu können. Zum anderen Datenquellen aus nationalen Erhebungen über häusliche Gewalt oder Befragungen in Institutionen, die mit Kindern zusammenarbeiten, wie Schulen oder soziale Einrichtungen.
"Es ist nichts, was nur weit entfernt von uns passiert. Es passiert auch hier in Deutschland, es passiert überall auf der Welt."
Was der Bericht deutlich zeigt: Sexualisierte Gewalt ist über Landesgrenzen und Kontinente weit verbreitet. Ninja Charbonneau, Pressesprecherin von UNICEF Deutschland, betont das Ausmass der Gewalt gegen Kinder: "Es ist nichts, was nur weit entfernt von uns passiert. Es passiert auch hier in Deutschland, es passiert überall auf der Welt. Tausendfach, jeden Tag. Gewalt gegen Kinder ist trauriger Alltag."
Die grösste Anzahl an Überlebenden, die vor ihrem 18. Lebensjahr sexualisierte Gewalt erlebt haben, findet sich in den bevölkerungsreichsten Regionen dieser Welt: in Sub-Sahara Afrika mit 79 Millionen und Ost- sowie Südostasien mit 75 Millionen. In Europa und Nordamerika sind es zusammengenommen 68 Millionen Betroffene.
Auch wenn es zunächst naheliegt: Vergleichen könne man die Zahlen laut Bericht kaum miteinander. Denn die Unterschiede seien gravierend. So könnten Frauen etwa in manchen Regionen noch stärker daran gehindert werden, offen zu sprechen. Die Unterschiede zwischen den Regionen hingen von Faktoren ab, die schwer messbar seien, wie Dunkelziffern oder gesellschaftliche Normen.
Verschiedene Arten der sexualisierten Gewalt
Besonders schwierig wird es bei der Erhebung von Fällen der "berührungslosen" Formen sexualisierter Gewalt, etwa durch ungewollte sexuelle Bemerkungen und Witze, sexuelle Belästigung oder dem Entblössen der Geschlechtsteile. Mit dem Internet ist eine weitere Dimension der sexualisierten Gewalt dazugekommen.
Analyn (Name geändert) hat das erlebt. Im Alter von zehn Jahren wurde sie von ihrem Nachbarn mit Geldangeboten dazu gebracht, an Livestreams, die für Ausländer im Internet angeboten wurden, teilzunehmen und dort sexuelle Handlungen zu vollziehen. Inzwischen ist sie 12 und lebt mit ihren zwei Schwestern in einer sicheren Unterkunft.
Auch Jungen sind betroffen – und das vermutlich häufiger als bisher angenommen. Klar ist jedoch, dass die Datenlage zu sexualisierter Gewalt gegen Jungen noch schlechter ist als die bei Mädchen. Sie sprechen kaum über das, was ihnen widerfährt. Dies kann an gesellschaftlichen Zwängen liegen und daran, dass Jungen in manchen Strukturen nicht als schwach oder verletzlich gesehen werden wollen oder dürfen.
Was sind die Folgen für die Betroffenen?
Für Kinder sind die Folgen solcher Taten dramatisch. "Das Schreckliche an sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist, dass die Folgen ein Leben lang anhalten", so Charbonneau von UNICEF Deutschland. Die Folgen reichen von einem erhöhten Risiko für Drogenmissbrauch, Depressionen und Angstzustände und erheblichen Schwierigkeiten, im Erwachsenenalter gesunde und positive Beziehungen zu führen. Sexualisierte Gewalt zieht sich durch das ganze Leben der Kinder, "bis in die nachfolgenden Generationen".
"Dieser Bericht sagt uns als Gesellschaft, dass wir bisher noch darin versagen, Kinder ausreichend zu schützen", sagt Charbonneau. Sie stellt klar: "In erster Linie müssen die jeweiligen Regierungen dafür sorgen, dass Kinder geschützt werden, und dafür muss es wirksame Gesetze geben. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Sensibilisierung – das Wissen darüber, wann eine Grenze überschritten wird, wie ich mich schützen und wo ich auch Hilfe finden kann, ist entscheidend für Kinder."
Verwendete Quellen
- Bericht von Laetitia Bukebo, zur Verfügung gestellt von UNICEF
- UNICEF-Bericht: When Numbers Demand Action: Confronting the global scale of sexual violence against children
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