Seit einem Jahr herrscht Krieg im Sudan. Damit einher geht eine katastrophale Hungersnot – die schlimmste seit 20 Jahren. Tewoldeberhan Daniel leitet die UNICEF-Ernährungsprogramme vor Ort und erlebt, wie die Kämpfe, Hunger und Krankheiten das Leben von Kindern und ihren Eltern prägen. Als Vater geht ihm das besonders nahe.
Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten beherrschen die Schlagzeilen. Oft unbeachtet bleibt der blutige Machtkampf im Sudan, wenngleich er binnen fünfzehn Monaten über 16.000 Menschen das Leben gekostet und Millionen in die Flucht getrieben, zu Obdachlosen und Hungernden gemacht hat.
Tewoldeberhan Daniel leitet die Ernährungsprogramme von UNICEF im Sudan. Im Interview mit unserer Redaktion berichtet er vom Überlebenskampf der Menschen vor Ort und davon, wie Kinder ihn immer wieder beeindrucken.
Herr Daniel, wo erreichen wir Sie?
Tewoldeberhan Daniel: Ich bin in Port Sudan, einer Stadt im Nordosten des Sudan. Früher hatte UNICEF seinen Sitz in der Hauptstadt Khartum. Aber als der Krieg ausbrach, mussten wir von dort weg.
Ist es im Nordosten sicher?
Den Umständen entsprechend. Noch sind wir hier sicher. Aber wir befinden uns in einem Land, in dem Krieg herrscht. Und der weitet sich permanent aus. Die meisten Menschen im Sudan fühlen sich nicht sicher. Sie hören, sehen und lesen ständig Nachrichten und leben in ständiger Angst, weil sich die Situation jederzeit weiter verschlechtern kann.
Der Krieg tobt seit einem Jahr. Wie ist die Situation derzeit?
Wirklich kritisch, besonders für die Kinder. Sie erleben tagtäglich Schreckliches. Es ist so viel zerstört worden, darunter Schulen, Krankenhäuser und Gesundheitszentren. Millionen Menschen haben ihr Zuhause und ihre Familien verloren, darunter etwa fünf Millionen Kinder. Kaum Fünfjährige erzählten mir von ständiger Flucht, oft mit nichts als den Kleidern am Leib. Es fehlt ihnen an Gesundheitsversorgung, Nahrung, Wasser und sanitären Einrichtungen. Als Folge leiden in diesem Jahr schätzungsweise 730.000 Kinder an schwerer, akuter Mangelernährung.
Krieg im Sudan: Ein Land am Abgrund
- Seit April vergangenen Jahres kämpfen im Sudan zwei rivalisierende Militärfraktionen um die Macht: die sudanesischen Streitkräfte (SAF) unter De-facto-Staatschef Abdel Fattah Burhan und die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) unter Burhans ehemaligem Stellvertreter Mohammed Hamdan Daglo, genannt Hemedti.
- Die erbitterten Kämpfe haben nach Angaben der Vereinten Nationen bereits 16.000 Menschen das Leben gekostet. Hinzu kommen 33.000 Verletzte. Neun Millionen Sudanesen sind auf der Flucht, rund 14 Millionen Kinder auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind etwa so viele Kinder, wie in ganz Deutschland leben. Es handelt sich um die schlimmste Krise im Sudan seit dem Darfur-Konflikt von 2003, der zu einem verheerenden Völkermord führte, bei dem schätzungsweise 300.000 Menschen getötet und mehr als 2,7 Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Wie hilft UNICEF?
Wir setzen uns auf verschiedenen Ebenen für die Kinder ein. Während eines Angriffs verlieren Kinder ihre Eltern leicht aus den Augen – und umgekehrt. Unsere Kinderschutzteams arbeiten unermüdlich daran, getrennte Familien wieder zusammenzuführen. Ist das nicht möglich, helfen wir den Kindern, ein neues Zuhause zu finden. Die meisten werden von Familien aufgenommen, die in sichereren Regionen des Sudan leben.
Daneben gibt es die Ernährungsprogramme.
Genau. Wir unterstützen etwa 1.700 Ernährungszentren im Sudan. Unser Ziel ist es, unterernährten Kindern im ganzen Land zu helfen, unabhängig davon, wo sie sich aufhalten, nicht nur in sicheren Gebieten. Wir behandeln die Kinder medizinisch, denn Krankheiten erhöhen das Risiko für Mangelernährung. Wir versorgen schwer unterernährte Kinder mit therapeutischer Fertignahrung, damit sie wieder zu Kräften kommen. Ausserdem stellen wir Chemikalien zur Wasseraufbereitung zur Verfügung und setzen uns für den Aufbau sicherer Wasserversorgungssysteme ein, damit alle Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
Wie kann man sich den Alltag der Kinder vorstellen?
Nicht jedes Kind kann fliehen. Manche haben keine andere Wahl, als im Kriegsgebiet zu bleiben – oft weil sie sich um ihre kranken Eltern kümmern müssen. Für sie gibt es keine feste Alltagsstruktur, beispielsweise durch Schulen. In den sicheren Gebieten sieht es etwas besser aus – wenn auch nur bedingt. Auch hier leben viele Kinder in überfüllten Lagern oder Siedlungen und haben keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Immerhin haben einige Schulen geöffnet und wir arbeiten daran, dass jedes Kind zur Schule gehen kann. Wir schaffen auch Räume, in denen die Kinder malen, spielen und Kind sein können. Denn trotz allem bleiben Kinder Kinder. Sie sind bemerkenswert anpassungsfähig und machen oft das Beste aus ihrer Situation.
Daniel: "Berührt mich als Vater sehr"
Gibt es ein Schicksal, das Sie besonders berührt hat?
Vor etwa zwei Monaten habe ich einen Routinebesuch in einem Krankenhaus gemacht und dort ein kleines Mädchen namens Bra getroffen, erst 18 Monate alt. Es war sehr krank. Bra kämpfte tapfer, trank ihre therapeutische Milch und nahm die Medizin. Doch die Diagnose war ernüchternd: Cholera, eine sehr gefährliche Krankheit. Bra wurde sofort in ein Cholera-Behandlungszentrum gebracht. Ich habe sie jeden Tag besucht. Es war hart, die Familie so verzweifelt zu sehen. Mit der Zeit aber hat sich ihr Zustand verbessert. Ich konnte sehen, wie es ihr von Tag zu Tag besser ging. Die Hoffnung und Erleichterung in den Gesichtern ihrer Eltern hat mich tief bewegt.
Kein Job, den man nach Dienstschluss einfach so beiseite schiebt, oder?
Wenn ich diese Kinder sehe, denke ich sofort an meine eigenen. Wie meine Kinder haben sie ihr ganzes Leben noch vor sich. Was sie durchmachen, berührt mich als Vater sehr. Ich kann mich gut in die Sorgen und Ängste der Eltern hineinversetzen.
Sie haben vielen Familien geholfen. Welche Hoffnungen und Ängste teilen die Menschen, denen Sie begegnen?
Eine Familie erzählte mir, wie sie von Stadt zu Stadt geflohen ist, von Port Sudan über Wad Madani bis nach Kassala. Die ständige Flucht hat sie stark mitgenommen und ihre Angst war deutlich spürbar. Leider geht es vielen Familien ähnlich. Sie fragen sich verzweifelt, wann sie endlich zur Ruhe kommen. Trotz der schweren Situation teilen die Familien jedoch auch die Hoffnung. Ich erlebe die Kraft und den Mut, den sie zum Beispiel dann schöpfen, wenn ein Kind auf dem Weg der Genesung ist.
UNICEF ist das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. United Internet, wozu auch die Marken WEB.DE, GMX und 1&1 gehören, sammelt über die Stiftung United Internet for UNICEF Spenden für die Organisation.
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