Der Koalitionsvertrag steht – und enthält einige Überraschungen. Gerade bei Themen, die bei der Union zuletzt im Vordergrund standen, weist er deutliche Lücken auf. Hat Merz erneut den Kurs gewechselt?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Thomas Pillgruber sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Dass zu breitbeiniges Auftreten Politikern auf die Füsse fallen kann, musste Friedrich Merz schon kurz nach der Wahl lernen. Drei Jahre hatte die Union unter ihm in Frontalopposition gegen eine Lockerung der Schuldenbremse Stimmung gemacht. Auch im Wahlkampf hatte man die Fiskalregelung eisern verteidigt – nur um sie dann drei Wochen nach der Wahl doch zu reformieren.

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Selbst in den eigenen Reihen sah manch einer diesen Kursschwenk kritisch und warnte vor dem Bruch weiterer Wahlversprechen. Man habe in den letzten "drei Jahren eine knallharte Opposition und einen knallharten Wahlkampf geführt", so etwa der Chef der Jungen Union, Johannes Winkel, gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Deshalb müsse man sich nun auch "klar sein, wie die Erwartungshaltung der Parteibasis und vor allem der Wähler ist".

Und was die Wähler von ihr erwarten können, das hat die Union im Wahlkampf teils so deutlich kommuniziert wie keine andere Partei.

In die Atomenergie werde man wieder einsteigen, hiess es etwa. Die Cannabis-Legalisierung streiche man ersatzlos. Die Wehrpflicht führe die Union wieder ein, das Selbstbestimmungsgesetz schaffe man hingegen ab. Das sogenannte Verbrenner-Aus werde gestoppt und die Wahlrechtsreform der Ampel zurückgedreht.

Trippelschritte bei prominenten Themen

Doch so breitbeinig die Union im Wahlkampf bei diesen Themen voranschritt – im fertigen Koalitionsvertrag sind davon höchstens noch Trippelschritte übriggeblieben.

Eine "Pflicht" zum Wehrdienst ist erstmal vom Tisch. Stattdessen soll die Karriere bei der Truppe attraktiver werden – aber weiterhin auf Freiwilligkeit beruhen. So wie bisher schon.

Auch beim Selbstbestimmungsgesetz, der Cannabis-Legalisierung und dem Wahlrecht bleiben die Reformen der Reformen offenbar aus. Diese Gesetze wollen Union und SPD jeweils "evaluieren". Im politischen Jargon heisst das oft: Es bleibt alles, wie es ist.

Zur Atomenergie, die die Union als Thema monatelang durch alle Talkshows trieb, findet sich nicht einmal eine Zeile im Koalitionsvertrag. Gleiches gilt für das Verbrenner-Aus.

Bei einer weiteren Sache hat Merz’ Union sogar genau das Gegenteil von dem beschlossen, was sie ursprünglich ankündigte. Bis zu drei Ministerien wollten die Konservativen streichen. Jetzt hat Schwarz-Rot sogar eines mehr als die Ampel.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fliessen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäss dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Spotlight-Themen fallen hintenüber

Natürlich hat die Union nicht alle ihre Punkte aufgegeben. An vielen anderen Stellen im Vertrag hat sie sich klar durchgesetzt. Die Bürgergeldreform und verschärfte Gangart gegen Sozialhilfeempfänger war etwa ein Kernanliegen von CDU/CSU, das sich deutlich im fertigen Koalitionspapier findet.

Trotzdem fällt auf, wie viele dieser Spotlight-Themen, die die Union in den vergangenen Monaten aggressiv in den Vordergrund rückte, nun hintenübergefallen sind.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Merz steckte in einer Zwickmühle. Nach dem krachenden Ampel-Aus konnte die Union bei der Wahl nicht so zulegen, wie sie gehofft hatte. Abseits der gerupften SPD gab es für sie keine Möglichkeit, eine Regierung ohne die AfD auf die Beine zu stellen. Und von Neuwahlen hätte den Umfragen zufolge vor allem die Rechtsaussen-Partei profitiert.

Den Sozialdemokraten dürfte ihr Absturz bei der Wahl paradoxerweise sogar in den Koalitionsverhandlungen merklich geholfen haben. Schliesslich wäre der "Wiederaufbau der SPD als Volkspartei", den Parteichef Klingbeil am Wahlabend ankündigte, für die Genossinnen und Genossen in der Opposition sogar deutlich komfortabler zu machen.

Ein Scheitern der Gespräche hätte die SPD deutlich einfacher erklären können. Deutliche Zugeständnisse an die Sozialdemokraten waren für den Wahlsieger Merz also unausweichlich.

Die Stimmung im Land als Taktik?

Insgeheim dürfte das die Union bei manch einem Punkt auch gar nicht so sehr stören. Denn vermutlich waren ihr einige dieser Themen gar nicht so wichtig, wie es nach aussen wirkte.

Einen Wiedereinstieg in die Atomenergie halten schliesslich die allermeisten Experten für Fantasterei. Allein schon, weil die Betreiber nicht mehr wollen. Auch bei der CDU/CSU dürfte das angekommen sein.

Doch seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise bewegt das Thema die Bevölkerung. Ebenso wie die Cannabis-Legalisierung die konservative Kernwählerschaft der Union. Diese Themen im Wahlkampf aggressiv zu bespielen, um sich vor allem die Stimmung im Land zu Nutze zu machen, könnte eine Taktik gewesen sein.

Ein riskantes Spiel. Denn Studien zeigen: Gebrochene Versprechen gehen an den Wählerinnen und Wählern nicht spurlos vorbei. Dass die AfD am Tag, an dem der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde, erstmals die Union in einer Umfrage überholte, sollte Merz zumindest ein Warnsignal sein.

Verwendete Quellen: