Die erste Parlamentssitzung nach der widerrechtlich von Boris Johnson verordneten Zwangspause ist verbal völlig aus dem Ruder gelaufen. Abgeordnete aller Parteien kritisierten die Eröffnungsrede des britischen Premierministers aufs Schärfste. Unterhauschef John Bercow beschrieb die Atmosphäre als "toxisch" und hat den Abgeordneten nun die Leviten gelesen.
Der rüde und laute Ton bei der ersten Sitzung nach der Zwangspause des britischen Parlaments soll sich nach dem Willen von Unterhauspräsident John Bercow nicht wiederholen.
Möglicherweise werde die Debattenkultur im Hause zum Thema einer Untersuchung, sagte Bercow am Donnerstag. Noch in der Nacht hätten ihn darauf zwei hochrangige Mitglieder des Parlaments angesprochen.
Bercow bat die Abgeordneten am Tag danach, ihre Lautstärke zu senken und "sich gegenseitig als Gegner und nicht als Feinde zu behandeln".
Bercow beklagt "toxische" Atmosphäre im Unterhaus
"Die Atmosphäre in der Kammer war schlimmer als alles, was ich in meinen 22 Jahren im Unterhaus erlebt habe", sagte Bercow nach der ersten Parlamentssitzung am Mittwochabend. Sowohl auf der Regierungsseite als auch bei der Opposition habe Wut und eine "toxische" Atmosphäre geherrscht - dies müsse sich ändern.
Grossbritannien stehe mit Blick auf den geplanten EU-Austritt vor der schwierigsten politischen Situation seit Jahrzehnten. Das Parlament ist im Brexit-Kurs total zerstritten.
Johnson-Rede war "abstossend" und "schändlich"
Viele Abgeordnete quer durch alle Parteien und auch mehrere britische Medien hatten Premierminister
Johnson benutzte oft Begriffe wie "Kapitulation" und "Verrat". Kritiker warfen ihm deshalb Kriegsrhetorik vor.
Besonders eine Bemerkung über die ermordete britische Labour-Politikerin Jo Cox, die sich für den Verbleib Grossbritanniens in der Europäischen Union eingesetzt hatte, sorgte für wütenden Protest im Unterhaus.
Johnson hatte am Mittwochabend im Unterhaus gesagt, die Abgeordneten sollten doch dem Brexit zustimmen, wenn sie Cox ehren wollten. Die Labour-Politikerin war kurz vor dem Brexit-Referendum 2016 von einem Rechtsradikalen mit dem Ruf "Britain First!" getötet worden.
Die Zeitung "Daily Mirror" nannte den Premier einen "Mann ohne Scham". Kaum ein Premierminister zuvor habe eine so "schändliche Rede" gehalten.
Die Opposition, aber auch Abgeordnete seiner eigenen Partei kritisierten Johnsons Rede noch während der Sitzung als "abstossend" und "respektlos". Er würde damit nur Aggressionen im Brexit-Streit schüren, hiess es. Schon jetzt erhielten viele Abgeordnete Morddrohungen. Davon unbeeindruckt blieb Johnson bei seiner Wortwahl.
Witwer Brendan Cox: "Es macht mich ein wenig krank"
Auch der Ehemann von Jo Cox verurteilte Johnsons Bemerkungen. "Es macht mich ein wenig krank, dass Jos Name in dieser Weise benutzt wird." Der beste Weg, sie zu ehren, sei, "dass wir alle (unabhängig von unseren Ansichten) für das eintreten, woran wir glauben ... aber nie die andere Seite verteufeln", schrieb Brendan Cox im Kurznachrichtendienst Twitter.
Labour-Chef Jeremy Cobyn sagte, Johnsons Sprache sei kaum von der Rechtsextremer zu unterscheiden. Und sogar Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg - ein treuer Johnson-Anhänger - mahnte, jeder habe "die Verantwortung, mit unserer Sprache sanft umzugehen".
Jo Swinson von den Liberaldemokraten nannte die Bemerkungen des Premiers eine "Schande". Die Parteichefin hatte erklärt, sogar eines ihrer beiden kleinen Kinder werde bedroht.
Kulturministerin Nicky Morgan twitterte, dass die Wirkung von Worten in der Öffentlichkeit wohl bedacht werden müsse. Auch sie habe Drohungen erhalten.
EU-Kommissar King: Johnsons Sprache ist "krass und gefährlich"
Auch Grossbritanniens ranghöchster EU-Beamter Julian King kritisierte in einem für ihn ungewöhnlichen Ton die Aussagen Johnsons als "krass und gefährlich".
Der EU-Kommissar schrieb am Mittwoch an seine Twitter-Anhänger gerichtet: "Wenn Sie denken, dass extreme Sprache nicht politische Gewalt in ganz Europa, einschliesslich Grossbritannien, fördert, dann sind Sie nicht aufmerksam."
Hintergrund seines Kommentars ist auch, dass die Sicherheit einiger britischer Abgeordneter erhöht wurde, weil sie online Morddrohungen wegen ihres Standpunktes zum Brexit erhielten.
Johnsons Worte fielen während der ersten Sitzung des Parlaments nach der vom Premierminister durchgesetzten Zwangspause. Diese hatte der Oberste Gerichtshof am Dienstag als unrechtmässig bezeichnet und wieder aufgehoben. (jwo/dpa/afp)
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