Venezuela hat in einem Referendum seinen Anspruch auf eine benachbarte Region erneuert. Die Nachbarn sind alarmiert.
Mit einem Referendum zur Zukunft der Provinz Essequibo, die offiziell zum Nachbarland Guyana gehört, hat der venezolanische Präsident Nicolás Maduro vor wenigen Tagen international Schlagzeilen gemacht. Die Reaktionen fallen mitunter ziemlich besorgt aus.
Das grosse Deuten und Interpretieren hat begonnen. Während vereinzelt vor allem ausländische Medien einen möglichen Krieg heraufziehen sehen und Guyanas Präsident nach den Vereinten Nationen und dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag ruft, sehen Beobachter ganz andere Gründe für diesen Schritt, der vielleicht dann doch gar nicht so überraschend kam.
Denn der Grenzkonflikt, der als Grund für das Referendum herhalten musste, ist mehr als 120 Jahre alt. 1899 war die Provinz, die im venezolanischen Selbstverständnis zum eigenen Land gehört, durch einen Schiedsspruch Guyana zugesprochen worden – damals noch eine britische Kolonie. 1966, zur Unabhängigkeit Guyanas, gab es ein Genfer Abkommen, das Venezuela und Grossbritannien auftrug, künftige Ansprüche auf Verhandlungsbasis zu klären.
Gesteigertes Interesse erst wieder nach Entdeckung von Erdöl
Doch an sich war das Interesse Venezuelas an dem knapp 160.000 Quadratkilometer grossen und dünn besiedelten Gebiet nicht sonderlich ausgeprägt. Der Anspruch, der zwar grundsätzlich weiter bestand und auch in der Bevölkerung durchaus mehrheitsfähig war, flammte erst wieder richtig auf, als 2015 das US-Ölunternehmen ExxonMobil in der Region enorme Öl- und Gasvorkommen lokalisierte.
Die Voraussetzungen für das aktuelle Referendum waren und sind aus Sicht Venezuelas allerdings nicht besonders gut. Die Wirtschaft befindet sich trotz zuletzt verbesserter Zahlen seit Jahren in der Krise, weite Teile der Bevölkerung leben in extremer Armut, Benzin ist trotz des eigenen Ölreichtums knapp, weil die technische Infrastruktur des staatlichen Ölbetriebs PDVSA völlig heruntergekommen ist und kaum mehr Öl gefördert oder verarbeitet werden kann.
Für eine Förderung der Vorkommen in Essequibo würde es wohl an so ziemlich allem fehlen. In einem ähnlichen Zustand darf man die Ausrüstung der Armee wähnen, sodass an einen Einmarsch auch wohl kaum zu denken sein dürfte. Und auch die Strom- und Wasserversorgung im ganzen Land steht auf wackeligen Beinen. Kurzum: Die Liste der drängenderen Probleme ist lang.
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Konflikt würde langsam begonnene Reintegration Venezuelas gefährden
Dennoch hält sich Präsident Nicolás Maduro, der 2018 unter zweifelhaften Bedingungen gewählt wurde, irgendwie an der Macht. Zwar hatten die USA vor Jahren schon ein weitreichendes Embargo gegen seine Regierung verhängt, doch durch die internationalen Verbündeten China, Russland, Türkei, Kuba und Iran konnte Maduro seine Stellung in den vergangenen Jahren festigen.
Der Ukraine-Krieg hatte die USA sogar darüber nachdenken lassen, über all dies grosszügig hinwegzusehen, um die Versorgungslage mit Öl nicht noch komplizierter werden zu lassen. Diese Lockerungen und die Bemühungen Brasiliens, Venezuela auch in Südamerika nach langer Isolation wieder zu integrieren, würde Maduros Regierung mit grosser Wahrscheinlichkeit wieder zunichtemachen.
Einen bewaffneten Konflikt vor der eigenen Haustüre würden die USA ganz sicher nicht einfach so dulden. Auch China, sowohl in Venezuela als auch in Guyana wirtschaftlich engagiert, mahnte, den Streit zügig beizulegen. Der Nachbar Brasilien, der beiden Parteien noch eine Verhandlungsplattform geboten hatte, hat derweil vorsichtshalber seine Militärpräsenz in der Grenzregion verstärkt.
Beobachter sehen ein Ablenkungsmanöver
Was könnte also der Grund sein? Die Regierung steckt innenpolitisch fest und versucht, durch einen aussenpolitischen Nebenschauplatz die eigene Bevölkerung davon abzulenken und hinter sich zu versammeln. Kommendes Jahr soll in Venezuela gewählt werden – theoretisch zumindest.
Die Opposition hatte hierzu am 22. Oktober zu Vorwahlen aufgerufen. Insgesamt gibt es 20 Millionen Wahlberechtigte; wie viele davon eine Opposition unterstützen, wie viele der Maduro-Regierung trotz allem die Treue halten und wie viele weder der einen noch der anderen Seite vertrauen - das galt es herauszufinden. Ohne staatliche Unterstützung bei der Durchführung gelang es, rund 2,5 Millionen Venezolaner zur Stimmabgabe zu bewegen.
Ein Erfolg für die Opposition, so sehen es viele, bei der María Corina Machado mit grossem Abstand die meisten Stimmen erhielt. Ihr Problem ist, dass es ihr schon vor einiger Zeit, wie vielen anderen Oppositionspolitikern auch, verboten wurde, öffentliche Ämter auszuüben.
Nach der Vorwahl der Opposition musste eine passende Antwort her
Nach diesem durchaus gelungenen Stimmungstest sah sich die Regierung herausgefordert und rief mit grossem Aufwand über Wochen zum Referendum auf. Am Ende sollen laut staatlicher Wahlbehörde 10,5 Millionen Venezolaner abgestimmt haben. Beobachter haben grosse Zweifel an der Verlässlichkeit der Zahlen, denn augenscheinlich hatte es fast nirgendwo die sonst üblichen Menschenschlangen vor und in Wahllokalen gegeben.
Nicht wenige gehen davon aus, dass deutlich weniger ihre Stimme abgegeben haben als sechs Wochen zuvor bei der Opposition. Angesichts dieses mutmasslichen Scheiterns, das eigene Wählerpotenzial zu mobilisieren und die Bevölkerung hinter einem grossen, nationalen Thema zu vereinen, sprechen Beobachter von einem herben Dämpfer für Maduro.
Die Frage ist nun, ob und wie sich das auf den geplanten Wahltermin auswirken wird. Kann es die aktuelle Regierung riskieren, die Wahl stattfinden zu lassen und womöglich auch eine echte Opposition zuzulassen? Lange herrschte Funkstille zwischen Regierung und Opposition. Doch eben noch gab es durch das von den USA eingefädelte Abkommen von Barbados wieder den Anschein von Annäherung im zerrütteten Verhältnis zwischen Regierung und Opposition.
Gegenseitiges Misstrauen nach wie vor gross
Bei den von Norwegen vermittelten Verhandlungen zwischen dem Regime in Caracas und der Opposition, deren Führer teilweise im Exil leben, hat die Regierung versprochen, ausländische Wahlbeobachter zuzulassen. Auch eine Aufhebung der Wahlverbote gegen einige Politiker war im Gespräch. Mit den kurz darauf erfolgten Vorwahlen wurde der Gesprächskorridor jedoch wieder deutlich verengt. Das gegenseitige Misstrauen ist noch immer gross.
Gut möglich, dass die Opposition mit ihrer Aktion den kleinen sich bietenden Handlungsspielraum verspielt hat. Die Regierung hätte bei einer Abwahl einiges zu verlieren, etwa den Zugriff auf die Erlöse des Ölgeschäfts. Eine Verschiebung der Wahl auf irgendwann könnte eine weitere Langzeitfolge dieser aufkochenden innenpolitischen Spannungen sein.
Verwendete Quellen
- Reuters: World Court orders Venezuela to refrain from action in border dispute with Guyana
- Reuters: Brazil increases northern border military presence amid Venezuela-Guyana spat -ministry
- NZZ: Regierung und Opposition in Venezuela einigen sich auf Präsidentschaftswahlen – doch saubere Wahlen sind kaum möglich
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