Elektrizität und fliessendes Wasser - in Venezuela sind das keine Selbstverständlichkeiten mehr. Interimspräsident Juan Guaidó will die Wut der Venezolaner über die dramatische Lage nutzen und Staatschef Nicolás Maduro aus dem Amt drängen. Der aber gibt sich kampfeslustig.
Vicente Fernández hat seinen Gefrierschrank seit Donnerstag nicht geöffnet. "Wahrscheinlich ist alles darin verdorben", sagt er. "In meinem Haus gab es seither keine Minute Strom." Der 54-Jährige aus Caracas ist auf dem Markt im Stadtteil Chacao unterwegs und kauft Bananen - die brauchen keine Kühlung.
Der Markt ist nur schwach beleuchtet, die Stände der Fleischer und Fischverkäufer sind geschlossen. Das Angebot ist beschränkt, ausserdem nehmen die Händler seit dem Stromausfall nur Bares und am liebsten Dollar - und das in einem Land, in dem normalerweise das meiste elektronisch bezahlt wird.
Fernández redet so lange auf den Verkäufer ein, bis dieser doch mit einer Überweisung einverstanden ist.
Seit Donnerstagabend haben weite Teile Venezuelas keinen Strom. Die Versorgung für alle 31 Millionen Einwohner wieder herzustellen, funktioniert nur schleppend.
Nach Ansicht von Staatschef Maduro ist das Land Opfer eines Hackerangriffs der USA und der venezolanischen Opposition geworden. Er hat nach Freitag und Montag auch Dienstag und Mittwoch zu arbeits- und unterrichtsfreien Tagen erklärt.
In diesen 48 Stunden solle weiter daran gearbeitet werden, die Versorgung mit Elektrizität wiederherzustellen, sagte er in einer Ansprache am späten Montagabend (Ortszeit) in Caracas.
"Ich bewundere das venezolanische Volk, das dieser neuen Attacke der Feinde des Vaterlands mit Mut trotzen", hatte sich Maduro einige Tage zuvor auch kampfeslustig auf Twitter gezeigt. "Wir werden siegen."
Übergangspräsident Guaidó ruft Notstand aus
Die Opposition um den selbst ernannten Übergangspräsidenten
Stunden vor Maduros Ansprache hatte die von der Regierung nicht anerkannte Nationalversammlung wegen des Stromausfalls den Notstand erklärt. Die Abgeordneten stimmten mehrheitlich für die von Guaidó vorgelegte Initiative.
In dem Beschluss des Parlaments werden unter anderem die Streitkräfte angewiesen, das Stromnetz zu schützen und Proteste gegen den Stromausfall nicht zu unterdrücken. Allerdings haben Guaidó und das Parlament keine faktische Macht, das Militär steht bisher zu Maduro.
"In vier Tagen sind wir 100 Jahre zurückgefallen", sagte Guaidó. "Und alles deutet darauf hin, dass sich die Lage wegen der Korruption, der Gleichgültigkeit und der Ineffizienz des unrechtmässigen Regimes noch verschärfen wird."
Schon vor dem Stromausfall waren Grundnahrungsmittel und Medikamente in Venezuela knapp und teuer geworden. Der monatliche Mindestlohn von 18.000 Bolivar (derzeit etwa 4,90 Euro) reicht gerade einmal für zwei Kilo Fleisch. Viele Venezolaner haben Gewicht verloren.
Staatschef Maduro will in dieser Woche Lebensmittel, Wasser und Benzin verteilen lassen. Auch die Krankenhäuser will er besser versorgen.
Weil auch Kliniken von der Elektrizität abgeschnitten waren, sollen nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und Opposition bisher 79 Menschen gestorben sein. Die Regierung wies die Behauptung zurück. Die Kliniken seien mit Generatoren versorgt worden, sagte Informationsminister Jorge Rodríguez.
Eiswürfel zum Wucherpreis
Libia Arraiz treibt die Lage Tränen in die Augen. Die 60-Jährige sitzt an einem Tisch ihres Lokals auf einem anderen Markt in Caracas und hofft, dass bald wieder Strom fliesst. Sonst muss sie ihre ganzen Vorräte wegwerfen.
"Oh, mein Gott! Mir bleibt nichts anderes übrig, als alles zu verschenken", klagt sie. Zusammen mit ihren Kolleginnen vom Markt organisiert sie einen gemeinschaftlichen Frühstücks- und Mittagstisch, zu dem jeder kommen kann und mitbringt, was er hat.
"Eine Überlebensstrategie", sagt Arraiz. Auch sie wittert Sabotage, doch die Wirtin macht Übergangspräsident Juan Guaidó für die Misere verantwortlich: "Diese Leute haben kein Gewissen, in Wahrheit sind sie Terroristen."
Aus einigen Regionen des Landes wurde von Plünderungen berichtet. Manche nutzen die Krise zum Geschäftemachen. Im Viertel El Cafetal verkauft jemand von einem Lastwagen Plastikbeutel mit Eiswürfeln für drei Dollar (2,70 Euro). María Ribas kauft welche und bezahlt mit den Devisen, die ihr Verwandte aus dem Ausland schicken.
Rund drei Millionen Venezolaner haben nach Angaben der Vereinten Nationen das Land seit 2015 verlassen. Mit ihrem Beutel Eis in der Hand schildert Ribas, wie hart das Leben derzeit in Venezuela ist. "Das ist wie im Mittelalter", sagt sie. (ank/AFP/dpa)
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.