Binnen weniger Wochen wurden öffentliche Auftritte mehrerer bekannter Persönlichkeiten behindert. Ist das eine berechtigte Form des Protestes oder schon eine unzulässige Beschneidung des im Grundgesetz verankerten Rechts auf freie Meinungsäusserung?
Nachdem eine Lesung von Thomas de Maizière in Göttingen und Vorlesungen von Bernd Lucke an der Uni Hamburg behindert und abgesagt wurden und eine Diskussionsveranstaltung mit
Inwieweit ist der Staat dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Individuen ihr Recht auf freie Meinungsäusserung beanspruchen können? Sind die drei Fälle typisch für unsere Zeit oder handelt es sich um eine zufällige Häufung?
Stefanie Lejeune ist Verfassungsrechtlerin, gleichzeitig blickt sie auf eine langjährige Erfahrung als Politikerin zurück. Im Gespräch mit unserer Redaktion ordnet sie die Vorfälle ein.
Ist die Meinungsfreiheit in Gefahr?
Frau Lejeune, jüngst haben drei Fälle von Politikern Schlagzeilen gemacht, deren öffentliche Auftritte gestört oder verhindert wurden. Kann man hier von einer Beschneidung der Meinungsfreiheit sprechen?
Stefanie Lejeune: Herr
Das Recht auf Meinungsfreiheit – also die Freiheit, sich eine Meinung zu bilden, sie zu äussern, sie zu verbreiten – gilt im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Im klassischen Verständnis geht es um die Frage, ob der Staat direkt in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit eingreift.
Welchen Inhalt meine Meinung hat, bewertet das Grundgesetz erstmal nicht. Zunächst kann ich alles sagen. Erst im zweiten Schritt wird geprüft, ob ich damit Rechte Dritter beeinträchtige, ob eine Rechtsverletzung vorliegt, etwa hinsichtlich des Jugendschutzes oder der Ehrverletzung.
Welche Rolle hat der Staat bei der Durchsetzung der Meinungsfreiheit, wenn es bei den jüngsten Fällen um das Verhältnis zwischen zwei Privaten geht und nicht um das Verhältnis zwischen Staat und Individuum?
Bei de Maizière hat der Staat nicht aus eigenem Antrieb entschieden. Es war eine Reaktion auf die Drohung Dritter, diese Veranstaltung zu boykottieren und vielleicht Gewalt auszuüben.
Die Frage ist: Wie muss der Staat entscheiden, wenn sich zwei private Grundrechtsträger auf die Meinungsfreiheit berufen? Welche übergeordneten Interessen rechtfertigen es, einem der beiden dieses Recht zu untersagen?
Parallelen gibt es bei der Demonstrationsfreiheit. Ist eine Veranstaltung korrekt angemeldet und inhaltlich mit dem Versammlungsrecht vereinbar, muss sie stattfinden können. Solche Versammlungen dienen ja der Meinungsbildung und Meinungsäusserung.
Konträre Gruppen werden dann separiert und der Staat hält unter Einsatz der Polizeikräfte diejenigen zurück, die diese Meinungsäusserung mit Gewalt, mit Niederbrüllen und ähnlichem unterbinden wollen – egal, ob die Störung von ganz links oder ganz rechts kommt.
Bei de Maizière und Lindner gab es keine Anhaltspunkte dafür, dass sie eine Meinung hätten äussern wollen, die gegen geltende Gesetze verstossen hätte. War es also richtig, ihnen zu untersagen, aufzutreten? Hätte man nicht vielmehr für Sicherheitsvorkehrungen sorgen müssen, die gewährleisten, dass sie ihre Meinung äussern können?
Soweit ich die Fälle aus den Medien kenne, war das Untersagen hier rechtlich bedenklich, wohl eher rechts- beziehungsweise verfassungswidrig.
Gruppierungen beanspruchen die Meinungsführerschaft
Nehmen solche Fälle zu oder ist es Zufall, dass diese drei in kurzer Zeit aufgetreten sind?
Es geht nicht allein um diese drei Fälle, sondern dass es Gruppierungen gibt – in der gesamtgesellschaftlichen Landschaft –, die eine Meinungsführerschaft für sich in Anspruch nehmen, und zwar auch in moralischem Sinne.
Ich war über zwanzig Jahre lang politisch aktiv und es ging auch hart her in den politischen Auseinandersetzungen. Aber ich hatte damals nicht den Eindruck, dass es eine Gruppe gab, die sagte, wir haben die Moral auf unserer Seite. Das ist etwas, was sich in den letzten Jahren zunehmend zeigt.
Lassen sich diese Gruppierungen genauer eingrenzen?
Nach meiner Beobachtung sind es häufig Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, weltoffen zu sein. Dass sie in keiner Weise diskriminierend oder rassistisch sind, dass sie sozial keine Unterschiede machen. Gleichzeitig sind sie Menschen gegenüber, die sie einem anderen – politischen oder gesellschaftlichen - Lager zuordnen, alles andere als tolerant. Ihnen begegnen sie mit einer unglaublichen Aggressivität und Ablehnung.
Diese Beobachtungen gibt es schon länger. Auch "Die Zeit" berichtete darüber. Damals wurde das verstärkt in US-Hochschulen festgestellt. Und das soll es auch schon an deutschen Hochschulen geben.
Bei Studentengruppierungen, die im politisch linken Lager zu verorten sind, ist eine erschreckende verbale Radikalisierung zu beobachten. Natürlich machen auch Studentengruppierungen von sich Reden, die dem rechts-konservativen Lager angehören. Allerdings deutlich seltener.
Die Betroffenen, deren Auftritte gestört oder verhindert wurden, sind sehr unterschiedlich: De Maizière ist konservativ, Lindner liberal, Lucke ein AfD-Mitbegründer. Kann man eingrenzen, wer im Fadenkreuz steht und welche Meinungen unterdrückt werden?
Es ist im Grunde genommen das gesamte Lager beginnend in der Mitte bis rechts. Bei der AfD kann man noch sagen rechts aussen.
Problematisch ist nicht die Kritik an sich. Doch bei vielen Aktivisten hat man den Eindruck, die Toleranz wird für sich selbst beansprucht. Es wird behauptet, dass man sie selbst lebt. Aber sie wird nicht gelebt, sondern es wird gegenüber Andersdenkenden eine harte Position vertreten. Nicht nur verbal – es wird mit allen Mitteln versucht, den anderen zu diskreditieren.
Dann heisst es beispielsweise pauschal, derjenige, der eine andere Meinung vertritt, sei frauenfeindlich, homophob oder fremdenfeindlich. Erhebt man einen solchen Vorwurf gegenüber jemandem, hat der andere zunächst das Problem, sich erklären, vielleicht sogar rechtfertigen zu müssen. Das behindert oder unterbindet die sachorientierte, politische Diskussion.
Muss der Staat die freie Meinungsäusserung schützen?
Sie sagten, es gehöre zu den Aufgaben des Staates, eine freie Meinungsäusserung zu ermöglichen. Hätten staatliche Organe solche Vorfälle denn voraussehen und Schutzmassnahmen ergreifen können?
Die Verwaltung sollte sich wappnen und Vorkehrungen treffen. Es sind keine einzelnen Aktivisten, diese Störmanöver werden von Gruppierungen gesteuert.
Es gibt Kommunikationsspezialisten und es wäre zu erwarten, dass sie mit den Störern zuvor Kontakt aufnehmen und klare Linien ziehen: Wenn Störfeuer kommen, bekommen Sie keinen Zugang zum Saal. Und wenn Sie doch eindringen, ist das ein Hausfriedensbruch, den wir ahnden werden. Wir werden das Niederbrüllen nicht dulden.
Im Fall von Herrn Lindner hat die Uni Hamburg argumentiert, dass sie keine Räume für politische Veranstaltungen zur Verfügung stellt. Eine Veranstaltung mit Sahra Wagenknecht kurz zuvor wurde mit der Begründung erlaubt, dass es sich dabei um eine wissenschaftliche Veranstaltung handle. Wie ordnen Sie das als Expertin für Compliance an Hochschulen ein?
Bei einer Körperschaft des öffentlichen Rechts kann man sich immer die Frage stellen, inwiefern diese verpflichtet ist, parteipolitischen Veranstaltungen die Tore zu öffnen. Die Universität hat das Hausrecht und sie kann sagen: Wir können bestimmte Sicherheitsstandards nicht garantieren, sollte es zu Ausschreitungen kommen. Darum wollen wir solche Veranstaltungen unterbinden.
Das Format ist in diesen beiden Fällen ähnlich: Es sind Politiker, die bundesweit bekannt sind – da mag die Argumentation nicht ganz einleuchten.
Das über die Wissenschaftlichkeit der Inhalte zu definieren, ist schwierig. Christian Lindner kann für sich genauso ein wissenschaftliches Statement in Anspruch nehmen wie Sahra Wagenknecht. Und wenn man das weiss, kann man ja auch manipulieren. Denn dann formulieren Sie das Thema auf die eine oder die andere Art und bekommen so einmal eine Genehmigung und einmal bekommen Sie keine.
Die Kriterien sollten klar sein. Entweder, ich lasse keine parteipolitischen Veranstaltungen mit Politikern dieses Formats zu. Oder die Veranstaltungen werden nur dann genehmigt, wenn mindestens zwei, drei Politiker unterschiedlicher, konkurrierender Parteien daran teilnehmen und so eine gewisse parteipolitische Ausgewogenheit herrscht.
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