Die Kämpfer des Islamischen Staats zerstören bei ihrem Vormarsch unersetzbare Kulturgüter. Historiker und Archäologen schreien auf, doch noch wichtiger für die psychologische Kriegsführung des IS sind Zerstörungen, von denen die Weltöffentlichkeit kaum Notiz nimmt.
Wenigstens die Tempelruinen stehen noch. Zumindest auf den letzten Satellitenaufnahmen aus Palmyra, der antiken Stadt in Syrien, die letzte Woche in die Hände des Islamischen Staats gefallen ist. Auch auf Fotos und Videos, die der IS verbreitet, lassen sich keine Schäden an den Anlagen erkennen, die weit über 2.000 Jahre alt sind. Trotzdem fürchten Archäologen und Historiker, dass Palmyra das gleiche Schicksal droht wie dem Weltkulturerbe im Irak: In Mossul, Hatra und anderen Städten haben die Gotteskrieger antike Gebäude mit dem Bulldozer planiert, Statuen mit Presslufthämmern zerstört und jahrhundertealte Bücher einfach verbrannt.
Aufnahmen aus dem Museum in Mossul zeigen, wie enthemmt die IS-Leute vorgehen: Sie rammen mit Vorschlaghämmern auf 2.600 Jahre alte Statuen ein, schlagen ihnen die Köpfe ab. "Auch wenn diese Dinge hier Milliarden von Dollar wert sind, für uns sind sie absolut nichts", sagte einer der Männer mit erhobenem Zeigefinger. Das stimmt nur halb. Die Zerstörung ist wichtig für die psychologische Kriegsführung der Truppen des Islamischen Staates. Genauso wichtig ist es aber, ein paar Artefakte intakt zu lassen.
Denn für den weiteren Kampf des Islamischen Staates haben die Kulturgüter eine grundlegende Funktion – sie finanzieren die Gotteskrieger. Wenn der IS neue Gebiete erobert, zerstört er nicht nur, er plündert auch. Meist gilt: Wenn den Kämpfern ein Museum in die Hände fällt, wird das verschont, was klein genug ist, um es zu verkaufen. Die wertvollen Artefakte verschwinden dann über die Grenze in den Libanon oder die Türkei auf den äusserst potenten Schwarzmarkt. Die englische Zeitung "Guardian" schätzt, dass der IS mit dem illegalen Handel von geraubten Antiquitäten schon rund 875 Millionen US-Dollar eingenommen hat.
Propaganda nach innen und aussen
Die grossen Statuen, die ohnehin nicht zum Verkauf taugen, werden rücksichtslos zerstört – zu Propagandazwecken. Damit sie wirkt, muss sie auch entsprechend inszeniert werden. "Sie machen die Verwüstung zu einem Medienereignis", sagte die Archäologin Simone Mühl unlängst der Deutschen Welle. Der IS kann so seine eigene Version des Islam verbreiten und festigen, die eine bildliche Darstellung von Menschen und Gott verbietet. Als der IS die irakische Stadt Mossul im vergangenen Sommer einnahm, wurde ein Dekret erlassen, laut dem alle Objekte zerstört werden müssen, die dieser Auslegung des islamischen Rechts widersprechen. Für diesen radikalen Bildersturm gibt es zahlreiche historische Vorbilder. Die Taliban sprengten 2001 in Afghanistan die berühmten Buddha-Statuen von Bamiyan, die schon in vorherigen Jahrhunderten immer wieder von islamischen Bilderstürmern beschädigt worden waren.
Für Professor Markus Hilgert, Direktor des Vorderasiatischen Museums in Berlin, steht das Vorgehen des IS durchaus in einer Tradition der kulturellen Kriegsführung. "Zu allen Zeiten wurde verstanden, dass Kultur ein wesentliches Element des Menschen und des Zusammenlebens ist", sagte er gegenüber dem Deutschlandfunk. "Insofern wusste man auch immer, dass man mit der Zerstörung der Kultur auch Feinde in die Knie zwingen kann." Trotzdem ist für Hilgert die Strategie des IS "beispiellos, vor allem in der Totalität des Angriffs". Die Absage an das Weltkulturerbe sei eine komplette Abkehr von jeglichem kulturellen Grundkonsens.
Das Ziel: Die Identität auslöschen
Das gilt nicht nur für die westliche Welt. Die IS-Kämpfer greifen ja nicht nur christliche Kirchen und Friedhöfe an, sondern alle vorislamischen Stätten und auch die des "falschen" Islam. So sprengte der IS vor kurzem erst eine Moschee in Mossul. Michael Danti, der Leiter der "Syrian Heritage Initiative" am Institut für Orientforschung in Boston, nennt die Strategie des IS im Fachmagazin "Science" eine "kulturelle Säuberung", die der Festigung der Macht in den eroberten Gebieten dient.
Wenn der IS Weltkulturerbe dem Erdboden gleichmache, errege das grosse Aufmerksamkeit, sagt Danti. Vielleicht noch dramatischer aber sei, dass die Kämpfer kulturelle Stätten zerstören, die im alltäglichen Leben eine Rolle spielen – Moscheen, Schulen, Theater. "Sie wissen, dass die kulturelle Identität der Menschen die Kraft hat, ihrer eigenen Lehre etwas entgegenzusetzen." Also versuche der IS, diese Identität auszulöschen.
Die Vereinten Nationen stufen die Zerstörung von Weltkulturerbe als Kriegsverbrechen ein. Doch den Islamischen Staat interessiert das nicht. Die Rechnung des IS lautet anders: Ohne überliefertes Erbe keine gemeinsame Identität und kein Widerstand gegen seine Herrschaft.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.