Die Zahl klingt alarmierend und geistert seit dem Wochenende durch die Medien. Fast 6.000 minderjährige Flüchtlinge sollen im vergangenen Jahr in Deutschland verschwunden sein. Eine Politikerin der Grünen spricht von Zwangsprostitution und Ausbeutung. Medien spekulieren über ein mögliches Verbrechen. Doch die Gründe für die Statistik könnten viel harmloser sein.
In Deutschland sollen nach einem Medienbericht im Vorjahr 5.835 minderjährige Flüchtlinge verschwunden sein. Die Zahl gehe aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Parlamentsanfrage hervor, berichteten Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Das Bundesfamilienministerium dementiert. Bereits Anfang Februar hatten die Experten mitgeteilt, es gebe keine belastbaren Hinweise, dass in Deutschland Tausende alleinreisende Flüchtlingskinder verschwunden sein könnten. In diesem Zusammenhang wurde auf "Vielfachzählungen" oder andere Registrierungsfehler verwiesen.
Tatsache ist, dass sich viele junge Flüchtlinge alleine auf die strapaziöse Reise nach Deutschland machen - und dass die offizielle Statistik so viele junge Migranten inzwischen als vermisst meldet, dass einige Politiker dahinter ein Verbrechen vermuten - so zum Beispiel die Grünen-Politikerin Luise Amtsberg.
Von einer alarmierend hohen Zahl an verschwundenen Kindern und Jugendlichen, sprach die Politikerin. Es bereite ihr Sorgen, dass die Bundesregierung "die Gefahren durch Zwangsprostitution und Ausbeutung nicht ernsthaft in Betracht zieht", sagte Amtsberg den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Keinerlei Anzeichen für ein Verbrechen
Doch die Sorge der Grünen-Politikerin könnte sich als unbegründet erweisen.
Bernd Mesowic ist stellvertretender Geschäftsführer der Organisation Pro-Asyl. "Ich glaube nicht daran, dass sich hinter diesen Zahlen ein Verbrechen in grossem Umfang verbirgt", sagte Mesowic im Gespräch mit unserer Redaktion.
"Wenn tatsächlich ein grosser Teil der Jugendlichen Opfer von Kriminalität geworden ist, zum Beispiel im Bereich der Zwangsprostitution, im Zusammenhang mit Drogengeschäften und ähnlichem, dann würden die Ermittlungsbehörden davon wenigstens die Spitze des Eisberges irgendwo erkennen können", betont Mesowic.
Es gebe aber keinerlei Anzeichen, dass die verschwundenen Jugendlichen mehrheitlich Opfer von Verbrechen geworden seien. Eine Ursache für die hohe Vermissten-Zahl sieht Mesowic in der Tatsache, "dass viele Jugendliche, die in Deutschland registriert werden, später weiterziehen".
Wenn ein Jugendlicher das Land wieder verlasse und innerhalb der EU beispielsweise nach Belgien oder Schweden reise, "verschwindet er aus dem deutschen Erfassungssystem und taucht nicht unbedingt woanders wieder auf", erklärt Mesowic.
Keine Vermisstenanzeigen
Das hänge auch davon ab, wie gut die Meldesysteme in den anderen EU-Staaten ausgebaut seien - "und ob es überhaupt einen funktionierenden, innereuropäischen Austausch dieser Daten gibt".
Aus seiner Erfahrung in der Flüchtlingshilfe weiss Mesowic, dass bei vielen Jugendlichen oft von vornherein von den Eltern geplant sei, "dass Deutschland nur eine Zwischenstation ist und das Ziel ein anderes Land", wo es zum Beispiel Verwandte oder Freunde gibt.
Hinzu käme die Schwierigkeit mit der Schreibweise ausländischer Namen, die oft unterschiedlich in den Meldesystemen erfasst werden. "Auch das kann zu einem scheinbaren Verschwinden von Jugendlichen führen, die teilweise in einer anderen Stadt mit ihrem Namen in einer anderen Schreibweise erfasst worden sind".
Wichtig sei, dass die hohe Vermisstenzahl mehrheitlich nicht auf Vermisstenanzeigen zum Beispiel der Eltern beruht, "sondern tatsächlich erst einmal ein statistisches Phänomen ist".
Unnötiger Alarmismus
Angesichts der Tatsache, dass es "im Moment keinerlei Hinweise auf etwaige Verbrechen als Ursache der Vermisstenzahl gibt", findet Mesowic die Äusserungen einiger Politiker, es gäbe Anzeichen für Zwangsprostitution und ähnliche Delikte befremdlich.
"Einige Europapolitiker haben die Befürchtung geäussert, dass die Verschwundenen Opfer solcher Delikte geworden seien, ebenso EUROPOL", erklärt Mesowic.
Klare Anzeichen hierfür, etwa aus Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden, habe es aber nicht gegeben. Insofern sei "die Aufladung des Themas, ohne dass man Opfer und Hinweise auf Deliktstrukturen hat, eine Art fortgesetzte Verdachtsberichterstattung", betont Mesowic.
Aufmerksamkeit für das Thema sei wichtig, Alarmismus weniger. Es sei "schlimm genug, wenn Kinder längerfristig amtlich aus dem Blick geraten, da braucht man nicht das Schlimmste zu evozieren".
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