Erst kämpfte er für freie Wahlen, inzwischen höhlt er demokratische Rechte aus: Ungarns Ministerpräsident Orbán hat innerhalb von 30 Jahren eine erstaunliche Wandlung vollzogen.
Im Juni 1989 hält ein 26-Jähriger auf dem Heldenplatz in Budapest eine Rede vor rund 250.000 Menschen. Er fordert freie Wahlen und den Abzug sowjetischer Truppen. Im selben Jahr geht der junge Jurist für ein Philosophie-Studium nach Oxford – dank eines Stipendiums des Intellektuellen George Soros.
30 Jahre später ist eben dieser Mann der inoffizielle Kopf einer politischen Strömung, die der liberalen Demokratie den Kampf angesagt hat. Die Universität seines ehemaligen Gönners Soros hat er indirekt aus dem Land gedrängt.
Die Rede ist in von Viktor Orbán – Ungarns Ministerpräsident hat in den vergangenen 30 Jahren einen erstaunlichen Wandel vollzogen. Zum Teil könne man diesen Wandel mit seinem ausgeprägtem Machtinstinkt erklären, sagt Kai-Olaf Lang, Osteuropa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Gespräch mit unserer Redaktion: "Er hat zumeist erkannt, mit welchen Themen man Wähler ansprechen kann."
Ab 1989 nach rechts gerückt
Orbán wuchs in eher einfachen Verhältnissen in einer Kleinstadt nicht weit von Budapest auf. 1988 gehörte er zu den Gründern des "Bundes Junger Demokraten" (Fidesz), einem Zusammenschluss liberaler Intellektueller, die den Kommunismus kritisierten.
1989 kam der erhoffte Wandel: Der Eiserne Vorhang fiel. Doch der vorherige Freiheitskämpfer kritisierte mehr und mehr auch die neuen politischen Verhältnisse.
Die aus den Kommunisten hervorgegangenen Sozialdemokraten und die Liberalen koalierten damals. Orbán behauptete daraufhin: Die Revolution nach dem Ende des Kommunismus sei in Wahrheit nur ein Abkommen, mit dem sich die alte Kommunisten-Garde und die neue liberale Elite gegenseitig die Macht sichern wollten. Um sich abzugrenzen, rückte er den Fidesz als liberal-konservative Partei in die rechte Mitte.
Wahlerfolg mit Feindbildern
1998 wurde Orbán erstmals zum Ministerpräsidenten gewählt – mit gerade mal 35 Jahren. Seine erste Amtszeit endete mit einer Schmach: 2002 wurde seine Regierung wieder abgewählt.
Orbán begann daraufhin, den Fidesz noch weiter nach rechts zu rücken, indem er Feindbilder schuf: Einwanderer, den Islam, die EU. Diesem Ansatz blieb er auch nach dem Erdrutschsieg seiner Partei 2010 treu, der ihn wieder zum Ministerpräsidenten machte.
Seitdem sorgt seine Politik für Aufsehen – dazu ein paar Beispiele: 2010 verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, das die Medien unter die Aufsicht einer regierungsnahen Behörde stellte.
2015 brachte Orbán eine Wiedereinführung der Todesstrafe ins Spiel – rückte davon aber wieder ab. 2017 begann seine Regierung, Flüchtlinge in grenznahen Containerlagern hinter Stacheldrähten unterzubringen.
In Zuwanderung sieht der fünffache Vater eine Bedrohung der einheimischen Bevölkerung. Die Angst vor Fremden verfängt nicht nur in Ungarn, sondern auch in den Nachbarländern. "In der Flüchtlingspolitik steht das Gros der ungarischen Gesellschaft hinter ihm – vielleicht nicht in dieser Schärfe, aber in der Tendenz schon", sagt Kai-Olaf Lang.
Ein Freund von Sarkozy und Kohl
Die europäischen Christdemokraten haben den Fidesz inzwischen suspendiert, allerdings nicht rausgeworfen. Vielleicht auch, weil Orbán in Europa gut vernetzt ist:
Den früheren französischen Präsidenten
Kai-Olaf Lang würde den Ungarn auch nicht als Anti-Europäer bezeichnen – trotz dessen unablässiger EU-Kritik. "Er will nicht aus der EU austreten, aber er will die Union in seinem Sinne verändern – etwa, indem Kompetenzen zurück auf die Mitgliedstaaten übertragen werden."
Zwischen Christdemokraten, Konservativen und Rechtspopulisten ist Orbán inzwischen schwer zu verorten. So lobt er zum Beispiel den italienischen Innenminister Matteo Salvini dafür, dass er Rettungsbooten die Zufahrt zu Häfen verweigert.
Aber er im Gegensatz zu vielen rechtspopulistischen Parteien hält er wenig von einem starken Sozialstaat. "Die Fidesz verfolgt eher eine Mittelschichtenpolitik, setzt auf Marktwirtschaft und Wettbewerb", sagt Kai-Olaf Lang.
Anhänger der "illiberalen Demokratie"
Im Juli 2014 wählte Orbán selbst für seine Politik die Überschrift der "illiberalen Demokratie". Der Begriff bezeichnet ein politisches System, in dem einerseits Wahlen stattfinden und demokratische Institutionen vorhanden sind, das aber andererseits wichtige Prinzipien der Demokratie beschneidet: zum Beispiel Pressefreiheit, Gewaltenteilung, Minderheitenrechte.
Warum legen Politiker die Axt an diese Prinzipien? Orbán argumentierte in einem Interview mit dem französischen Schriftsteller Bernard-Henry Lévy für das Magazin "The Atlantic" vor kurzem so: Die liberale Demokratie habe die übertriebene politische Korrektheit hervorgebracht – und die wiederum habe zum Totalitarismus geführt. Die Illiberalität sei deshalb nötig, um die Demokratie wiederherzustellen.
Orbán beruft sich in der Regel auf den Willen des Volkes. Doch nicht immer scheint es ihm zu gelingen, diesen Willen zu erspüren: Als seine Regierung Ende 2018 die Zahl der zulässigen Überstunden massiv erhöhen wollte, zogen in Ungarn Tausende dagegen auf die Strasse.
Die Opposition hat es trotzdem nicht geschafft, ein Mittel gegen den zunehmend autokratischen Orbán zu finden: Laut Umfragen könnten bei den anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament 13 der 21 ungarischen Sitze an den Fidesz gehen.
Quellen:
- Dr. Kai-Olaf Lang, Stiftung Wissenschaft und Politik
- Institut Montaigne: Portrait of Viktor Orbán Prime Minister of Hungary
- The Atlantic: How an Anti-totalitarian Militant Discovered Ultranationalism – Bernard-Henry Lévy interviews Viktor Orbán
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