Der ungarische Regierungschef Viktor Orban poltert gegen die Flüchtlingspläne der EU. Europa bettele bei der Türkei um die Sicherheit der Grenzen, kein EU-Land wolle Asylsuchende aufnehmen, Deutschland verhalte sich aggressiv. Orbans Aussagen im Faktencheck.

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Der ungarische Regierungschef Viktor Orban gilt nicht als der allergrösste Freund der EU-Flüchtlingspolitik. Das hat der Vorsitzende der rechtspopulistischen Fidesz-Partei in einem Interview mit der "Bild"-Zeitung wieder einmal unterstrichen.

"Wir betteln bei Herrn Erdogan - im Gegenzug für Geld und Versprechungen - demütig um Sicherheit für unsere Grenzen, weil wir uns nicht schützen können", sagte Orban. Diese Politik mache "Europas Zukunft und Sicherheit abhängig vom Wohlwollen der Türkei". Was ist dran an diesem Vorwurf?

Viktor Orbans Polemik

In der EU gibt es im Wesentlichen zwei Entwürfe, wie die Flüchtlingskrise gelöst werden könnte. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und ihre Verbündeten verfolgen den "europäisch-türkischen Ansatz".

Die Türkei soll ihre Grenze zu Griechenland effektiver abschotten, im Gegenzug würden die Europäer Ankara legale Flüchtlingskontingente abnehmen und Finanzhilfen zur Verfügung stellen.

Die sogenannten Visegard-Staaten Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei möchten dagegen nationalstaatliche Lösungen durchdrücken.

Sie wollen ihre Grenzen abschotten und lehnen die Aufnahme fester Flüchtlingskontingente ab – wie auch Frankreich oder Österreich, das eine eigene Obergrenze eingeführt hat. Die Osteuropäer würden die Balkanroute durch das Schliessen der griechisch-mazedonischen Grenze am liebsten komplett abriegeln.

Noch ist offen, ob der Plan zwischen der EU und der Türkei tatsächlich funktionieren wird. Ohne diese Lösung, so die Überzeugung in Brüssel und Berlin, wäre das Europa der offenen Grenzen passé.

Die Schäden für die Wirtschaft und für das Ansehen der EU wären immens. Orbans Bezeichnung als "Betteln" erscheint vor diesem Hintergrund reichlich polemisch. Zudem: Einen wirklichen überzeugenden Gegenentwurf kann er selbst nicht präsentieren.

Illusion oder Realität?

Als "Illusion" bezeichnete Orban das Vorhaben, mit Ankara eine Auf- und Rücknahme von Flüchtlingen zu vereinbaren. "Kein EU-Land will und kann das wirklich umsetzen", sagte er. Auch wenn sich derzeit noch keine konkrete Lösung abzeichnet, ist diese Behauptung falsch.

Erst im September hatten sich die EU-Innenminister darauf geeinigt, 120.000 Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen. Nur Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Rumänien stimmten dagegen.

Europa hat sich von der Idee einer Kontingentlösung noch lange nicht verabschiedet, auch wenn der Widerstand und die Bedenken in einigen Ländern gross sind. In Kürze will die "Koalition der Willigen", die aus einem Dutzend EU-Staaten besteht, mit der Türkei weiter über die Verteilung der Flüchtlinge sprechen.

An welchem Punkt Viktor Orban Recht hat

Weiter behauptete der rechtskonservative Regierungschef, in der Führung der EU habe sich eine "Kultur des Vertragsbruchs" eingeschlichen: "Die Maastricht-Kriterien, Schengen, Dublin - nichts gilt mehr."

In diesem Punkt liegt der Ungar richtig. Die Politologin Dr. Katrin Böttger vom Institut für Europäische Politik in Berlin sagte kürzlich gegenüber unserer Redaktion, das EU-Recht sei "an vielen Stellen in den letzten Jahren nicht eingehalten" worden.

Faktisch hat Ungarn aber selbst in unzähligen Fällen die rechtlichen Bestimmungen verletzt, weil es durch das Land reisende Flüchtlinge phasenweise nicht registriert und menschenunwürdig behandelt hat.

Nach dem Dublin-Abkommen können Flüchtlinge eigentlich nur in dem Staat der Europäischen Union Asyl beantragen, den sie zuerst betreten. Sie müssten dort registriert und bis zum Ende des Asylverfahrens untergebracht werden.

Man kann Orban darin Recht geben, dass das eigentlich die Aufgabe der völlig überforderten Griechen wäre, die in dieser Rolle aber auch von den EU-Partnern alleingelassen werden. Für ihre geografische Lage können die Griechen schliesslich in der aktuellen Flüchtlingskrise nichts.

Zusätzlich beschwerte sich der Viktor Orban im Interview mit "Bild", dass in der Debatte über die Flüchtlingskrise "der Ton aus Deutschland heute schroff, grob und aggressiv" sei.

Selbst falls das zutreffen sollte, sind das Eigenschaften, die immer wieder mit ihm selbst in Verbindung gebracht werden. Der autoritär regierende Politiker gilt als scharfzüngiger Rhetoriker, der gerne zuspitzt und vor persönlichen Angriffen nicht zurückschreckt.

2015 sagte er im staatlichen ungarischen Radio, die meisten Flüchtlinge glichen eher "Soldaten als Asylsuchenden". Orban ist der Polemik jedenfalls nicht abgeneigt, wo Sachlichkeit dienlich wäre. Das hat er in seinem jüngsten Interview wieder einmal unterstrichen.

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