Die grossen Gewinner der Wahl heissen AfD und FDP. Beide sammeln massiv Stimmen der Union ein – aber nicht nur aus den Gründen, die Horst Seehofer anführt. Die AfD zeigt exemplarisch, wie gespalten Deutschland noch immer ist.
Die Volksparteien sind in der Krise. Noch nie schnitten Union und SPD so schlecht ab, wie bei der Bundestagswahl 2017. Die Gewinner sind diesmal einst Totgesagte.
Es waren einmal zwei Parteien, die lagen am Boden. Die FDP, weil sie nicht nur von der Regierungsbank, sondern auch gleich aus dem Bundestag geflogen war. Die AfD, weil ihr mit viel Getöse gestarteter Sprung ins Parlament ebenfalls an der 5-Prozent-Hürde endete.
Das war am 22. September 2013. Genau 1.463 Tage später dürfen sich die beiden Parteien als die grossen Gewinner dieser Wahl fühlen: die AfD als drittstärkste Kraft im neuen Bundestag und die FDP als Wohl-Bald-Wieder-Regierungspartei.
Wie stark die Liberalen und die Rechtspopulisten zugelegt haben, lässt sich am besten an den absoluten Zahlen ablesen: Die AfD errang 5,88 Millionen Stimmen, 2013 waren es noch 2,05 Millionen.
Die FDP steigerte sich von 2,08 Millionen auf knapp 5 Millionen Stimmen. Wo kommt dieser Wählerzuwachs her? Profitierten die "Kleinen" von der Schwäche der Volksparteien? Welche Wählergruppe katapultierte die Parteien wieder nach oben? Ein Blick in die Daten zeigt vor allem, an welchen neuralgischen Punkten sich Deutschland spaltet.
Die grosse Wanderung
Zu den erfreulichen Ergebnissen der Bundestagswahl gehört die rege Wahlbeteiligung – gaben 2013 noch 71,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, waren es am Sonntag 76,2 Prozent.
Dementsprechend waren viele Stimmen von Nichtwählern zu vergeben, die sich die AfD überproportional einverleiben könnte: 1,5 Millionen ehemalige Nichtwähler machten ihr Kreuz bei der AfD, mehr als bei der SPD (1,4 Millionen).
Nur die Union holte sich mit fast 2 Millionen noch mehr ehemalige Weiss-Wähler. Überdurchschnittlich auch die Ausbeute der Liberalen, die rund 830.000 ehemalige Nichtwähler überzeugte.
Noch deutlicher wird es, wenn man die Verluste gegenrechnet: Nur 270.000 Menschen, die 2013 die AfD gewählt hatten, blieben dieses Mal zuhause – bleibt ein Zuwachs von 1,23 Millionen Stimmen, weit mehr als die Hälfte der absoluten Gewinne.
Die Union verlor gleichzeitig auch 1,6 Millionen Stimmen ins Lager der Nichtwähler, das Gesamtsaldo zeigt also nur ein Plus von rund 400.000 Stimmen, einen ähnlichen Wert weist die SPD auf. Die Liberalen gewannen dagegen 700.000 Stimmen aus dem Nichtwähler-Reservoir, die Linken 230.000 und die Grüne 270.000 Stimmen.
Als Melkkuh für die Wahlgewinner musste vor allem die Union herhalten: 1,04 Millionen Schwarz-Wähler wechselten zur AfD, andersherum waren es nur 60.000. Noch mehr ehemalige Merkel-Anhänger machten jetzt ihr Kreuz bei der FDP, nämlich 1,62 Millionen, in Gegenrichtung wählten nur 260.000.
Die SPD verlor den Löwenanteil ihrer Stimmen übrigens an Union (820.000), Grüne (760.000) und Linke (700.000). Die AfD holte sich 500.000 Stimmen von der SPD – und auch 400.000 von der Linkspartei.
Übrigens: So interessant die Zahlen zur Wählerwanderung aussehen, so umstritten sind sie. Das ZDF hat auf sie verzichtet, die hier angeführten Daten stammen von infratest dimap, die im Auftrag der ARD Daten aus den Wahltagsbefragungen mit amtlichen Statistiken kombinieren.
Das Hauptproblem ist der menschliche Faktor, erklärte der Meinungsforscher Christoph Hofinger im Gespräch mit diesem Portal: "Es gibt so viele Wahlen, gerade Wechselwähler wissen oft nicht mehr, wen sie wann gewählt haben." Damit bleiben die Zahlen zur Wählerwanderung also immer eine Schätzung.
Mehr als nur das Flüchtlingsthema
Die massiven Verluste der Union erklärte CSU-Chef
Von den AfD-Wählern sagten 99 Prozent, die Partei habe besser als andere verstanden, dass sich die Menschen nicht mehr sicher fühlten. Für 96 Prozent war es wahlentscheidend, dass die AfD die Zahl der Migranten verringern will.
Nur 31 Prozent der Befragten gaben an, die AfD aus Überzeugung zu wählen – der Parteiendurchschnitt liegt bei 63 Prozent -, satte 60 Prozent waren schlicht enttäuscht von den anderen Parteien.
Das muss aber nicht nur etwas mit dem Thema Migration zu tun haben, vermutete der Populismus-Experte Benjamin Krämer von der LMU München im Gespräch mit diesem Portal: "Die AfD hat die Leute eingesammelt, die der kulturelle Wandel Richtung Vielfalt verärgert, die den Eindruck haben: Wir spielen ja gar keine Rolle mehr."
Fast die Hälfte der AfD-Wähler fühlten sich laut infratest dimap "im Vergleich zu anderen hier in Deutschland benachteiligt". Die FDP profitierte demnach fast schon von einem"Leihstimmen"-Phänomen: Zu 39 Prozent gaben die Wähler der Liberalen an, ihre Stimme aus koalitionstaktischen Gründen vergeben zu haben – sie waren die Grosse Koalition leid.
Die Männer helfen den Wahlgewinnern
Wenn man aus den Daten den typischen AfD-Wähler herausdestillieren würde, dann wäre es ein Mann aus den östlichen Bundesländern zwischen 35 und 44 Jahren, mittlere Reife, Angestellter oder arbeitslos.
Eine Partei der "Ewiggestrigen" ist die AfD eher nicht: Den geringsten Stimmanteil (7 Prozent) holte sie in der Alterskohorte von Alexander Gauland bei den Über-70-Jährigen. Da war selbst die FDP mit ihrem jugendlich-hippen Wahlkampf erfolgreicher und erreichte die zehn Prozent, die sie fast in allen Altersklassen kontinuierlich verbuchte. Nur bei den unter 30-Jährigen waren die Liberalen mit 13 Prozent signifikant stärker.
Ein altbekannter Trend bestätigte sich: Die Alten wählen die Volksparteien, die Jungen eher die kleinen Parteien.
Einer der markantesten Gräben in Deutschlands Wählerschaft verläuft immer noch dort, wo früher die Mauer stand: Im ehemaligen Osten holte die AfD als zweitstärkste Kraft 20,5 Prozent und alle ihre Direktmandate, die Linke 17,3 Prozent.
Im ehemaligen Westteil sind es 10,7 bzw 7,2 Prozent. Garant für den Erfolg der Rechtspopulisten waren vor allem die ostdeutschen Männer, jeder Vierte machte sein Kreuz bei der AfD.
Bundesweit wählten 16 Prozent der Männer und 10 Prozent der Frauen die AfD, auch die FDP verzeichnete mit 12 gegenüber 10 Prozent einen leichten Männerüberschuss.
Während sich die Anteile bei SPD und Linkspartei gleichen, kommt die Union mit 36 Prozent bei den Frauen besser an als bei den Männern mit 30 Prozent.
Sonnendeck und Maschinenraum
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hatte im Sommer 2017 ergeben, dass bis dato die AfD keine Partei der wirtschaftlich Abgehängten war.
Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen der Anhänger lag bei 2600 Euro, weit vor dem der Linken (2400) und der Nichtwähler (2000). Ganz vorne, wenig überraschend: Die Anhänger der FDP mit 3400 Euro.
Bei der Bundestagswahl verzeichneten die Liberalen die meisten Stimmen aus der Berufsgruppe der Selbstständigen. Die AfD rekrutierte ihre Wähler vor allem unter Arbeitern und Arbeitslosen.
Ein weiterer Hinweis darauf, dass die AfD sich zur "Arbeiterpartei" entwickeln könnte: Infratest dimap weist bei den Wählern mit einer schlechten wirtschaftlichen Situation 23 Prozent der Stimmen der Wähler für die AfD aus, gemeinsam mit der SPD die meisten. Bei Grünen und FDP sind es nur 7 Prozent.
Diese beiden Parteien sind auch die Vertreter der Bildungsgewinner: Unter den Wählern mit Hochschulabschluss hatte die FDP mit 14 Prozent ihren höchsten Stimmanteil, die Grünen weisen denselben Wert auf.
Wer einen Hauptschulabschluss hat, wählte überproportional die AfD (14 Prozent), noch deutlicher ist der Überschuss bei Wählern mit mittlerer Reife (17 Prozent).
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