• Martin Schulz startete 2017 für die SPD in einen vielversprechenden Wahlkampf – doch schon nach wenigen Wochen stolperte er von Niederlage zu Niederlage.
  • Ebenso hochgelobt bis vor einigen Tagen: Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen im Wahlkampf 2021.
  • Nun wird sie von eigenen Fehlern und einer wüsten Werbekampagne gebremst.
  • Es gibt ein paar Parallelen zwischen Schulz und Baerbock. Aber auch deutliche Unterschiede.
Eine Analyse

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Mit 100 Prozent der Stimmen zum Parteivorsitzenden gewählt: So begann 2017 die Karriere von Martin Schulz als Kanzlerkandidat. Dann kamen drei Landtagswahlen mit desaströsen Ergebnissen für die Sozialdemokraten. Und schnell wurde aus dem "Schulz-Effekt" der "Schulz-Hype", mutierte der mutige Einsteiger zum ewigen Verlierer, der seine Partei an den Abgrund führte: Mit 20,5 Prozent der Wählerstimmen holte er für die SPD das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte.

Manche Beobachter vergleichen den "Schulz-Effekt" von damals mit dem "Baerbock-Effekt" von heute. Annalena Baerbock ging mit grosser medialer Begleitung und vielen Vorschusslorbeeren an den Start.

Gelobt wurde der Mut zum Neuen, die Kandidatur einer Frau mit wenig Routine politischer Umsetzung, dafür mit direktem Zugriff auf die Themen Klima und Soziales, die von der Bevölkerung als dringlich und vernachlässigt wahrgenommen werden.

Gegenwind aus mehreren Richtungen

Aber schon bald kam Gegenwind auf: Zunächst musste Baerbock Nachlässigkeit bei der Angabe von meldepflichtigen Einkünften zugeben, die sie der Bundes­tags­ver­waltung nicht mitgeteilt hatte. Dann kamen die Grünen bei der Landtagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt auf gerade mal 5,9 Prozent. Ein zusätzlicher Sitz im Landtag sprang dabei heraus – aber ein Senkrechtstart sieht anders aus.

Wenige Tage später konstatierte die traditionell grünenfreundliche "taz": "Für die Grünen läuft's gerade nicht so." Nun hatten "Ungenauigkeiten" in den Angaben zu Baer­bocks Lebenslauf für Ärger gesorgt, Kritiker sprachen von "Beschönigungen", die Umfragewerte sanken. War Baerbocks Durchstarter also nur ein kurzer Hype wie 2017 der schnell ins Ruckeln gekommene "Schulz-Zug"?

Um "Peanuts", handle es sich bei den Problemen in Baerbocks Selbstdarstellung, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke im Gespräch mit unserer Redaktion. "Interessierte Medien" nutzen seiner Ansicht nach die Startschwierigkeiten der Kandidatin, kleine Fehler würden überbewertet.

Ein "Kampfverband" mit "Bild" und "Welt" an der Spitze mobilisiere gegen die Grünen. Die skandalträchtige Anzeigenkampagne der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) mit frauenfeindlicher und antisemitischer Tendenz sei schlagender Beweis für Hetze gegen Baerbock.

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Unternehmer-Kampagne sorgte für Geschlossenheit

Doch die Kampagne der unternehmergesteuerten INSM habe es gleichzeitig dem "Parteitag leicht gemacht", analysiert Funke: Die Partei habe mit grosser Geschlossenheit reagiert, der "grüne Aufbruch" habe sich dadurch stabilisiert, die "neue Dringlichkeit" und der "internationale Rückenwind" beim Klimathema ebenso wie ein "auch im sozialen Bereich schlüssiges Programm" stünden weiterhin für ein erfolg­rei­ches Agieren bis zur Bundestagswahl.

Ebenfalls ein Vorteil der Grünen im Vergleich zu Martin Schulz vor vier Jahren: "Die Partei ist längst nicht so fixiert auf die Spitzenkandidatin wie die SPD damals." Nicht nur die Doppelspitze mit Robert Habeck, sondern auch das erweiterte Team mit beispielsweise Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt stehe für einen erfolgreichen Wahlkampf.

Parallelen zwischen Baerbock und Schulz sieht der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. Ähnlichkeiten konstatiert er vor allem "hinsichtlich der Erwartungshaltung in der Bevölkerung, die sich mit diesen Personen verbindet". Baerbock werde – wie damals Schulz – als "unverbraucht und mutig, als neue Kraft und Bereicherung des politischen Systems" gefeiert, die hochfliegenden Erwartungen korrespondierten derzeit mit deren "schnellem Erlöschen".

Anschlussfähig nur im eigenen Biotop

Die Wahl in Sachsen-Anhalt sieht zwar auch Schroeder nicht als Zeichen eines schnellen Niedergangs – das Ergebnis sei nur eine "Delle" im Vergleich mit der "elektorischen Katastrophe", die Schulz in drei Landtagswahlen erlitten habe. Trotzdem diagnostiziert der Experte bei Baerbock bisher "fast nur Fehler", beginnend damit, "dass die Grünen sie überhaupt aufgestellt haben".

Baerbocks Biographie sei "recht uninteressant", mit nur minimalen Abweichungen von einer "Reissbrett-Karriere als Referentin" sei sie anschlussfähig nur bei den acht bis zehn Prozent grüner Stammwähler, nicht aber ausserhalb ihres eigenen "politischen Biotops". Baerbocks "Tragik", erklärt Schroeder: Sie liege zu sehr im Mainstream und habe zu wenig Erfahrung, "und man merkt, dass sie damit nicht klarkommt".

Die laut Schroeder "unverschämte Anzeigenkampagne" der INSM werde Baerbock nicht schaden, stattdessen können die Partei auf eine Zahl von wichtigen Stabilisatoren bauen: Profitieren werde sie vom mittlerweile gefestigten Konsens in der Bevölkerung für eine neue Klimapolitik wie von der deutlichen Unterstützung durch das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichtes.

Schroeder hebt auch den partiellen Konsens mit der Industrie hervor, der sich am Grusswort des ehemaligen Siemens-Chefs Joe Kaeser beim grünen Parteitag gezeigt habe, und konstatiert "eine Medienwelt, die den Grünen zugeneigter ist als damals der SPD mit Martin Schulz". Bei Schulz habe es solche Stabilisatoren nicht gegeben, "da kam gleich der freie Fall".

Noch auf einen weiteren, offenkundigen Unterschied weist Schroeder hin: "Bei Schulz wissen wir, wie es ausgegangen ist. Bei Annalena Baerbock kennen wir das Ende der Geschichte noch nicht." Ob der Baerbock-Effekt nur ein Hype war, wird sich erst bei der Bundestagwahl in gut drei Monaten zeigen.

Über die Experten: Prof. Hajo Funke ist emeritierter Politikwissenschaftler und lehrte bis 2010 an der Freien Universität Berlin.
Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Schroe­der lehrt und forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung sowie an der Universität Kassel.
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