In der SPD herrscht Euphorie über den Aufschwung unter dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Dabei hat die Partei schmerzhafte Erfahrungen mit jähen Abstürzen. Wird es diesmal auch dazu kommen oder ist der Hype um Schulz von Dauer?

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"Endlich mal wieder was los hier", schrieb Wahlkampfberater Frank Stauss auf seinem Blog vor einigen Tagen über den Hype um Martin Schulz. Es sieht ganz danach aus, als könnte der neue SPD-Kanzlerkandidat die kranke alte Dame Sozialdemokratie reanimieren und Angela Merkel ein Rennen um die Kanzlerschaft bieten.

In der Kanzlerfrage liegt der 61-Jährige derzeit Kopf an Kopf mit Merkel, er zieht die SPD aus ihrem Umfragetief. Im RTL-Stern-Wahltrend liegen die Sozialdemokraten bei 31 Prozent, die Union bei 34. Endlich mal was los hier. Aber was genau ist eigentlich los?

"Da kommen zwei Sachen zusammen", sagt Aiko Wagner, Forscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). "Gabriel ist weg, der nicht als gute Alternative gesehen wurde und ein Verlierer-Image hat. Und ausserdem ist Angela Merkels Stern gesunken, ihre Schwäche trägt zum Aufschwung der SPD bei."

Bei aller Euphorie bei den Sozialdemokraten: Es handelt sich nur um eine Momentaufnahme. Die Chefs der grossen Umfrageinstitute warnen vor allzu schnellen Schlüssen. Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen etwa machte in der "Zeit" "Umgruppierungen innerhalb des rot-rot-grünen Lagers vor allem zu Lasten der Grünen" für das Umfragehoch verantwortlich.

Ohnehin haben Umfragen ihre eigenen Tücken, wie Aiko Wagner weiss: "Wir kennen die Tendenz, dass die Leute in Umfragen sagen, sie würden wählen gehen, es aber dann nicht tun. Das muss sich nicht neutral auf alle Parteien auswirken."

Die heisse Phase des Wahlkampfs hat noch gar nicht begonnen. Deswegen ist es schwer, die Substanz von Schulz‘ Erfolg vorherzusagen. Zumindest in einem Punkt ist sich Aiko Wagner allerdings sicher: "Dass die SPD teilweise gleichauf liegt mit der Union, ist schon eine kleine Revolution, das wird nicht so einfach verpuffen."

Quasi ein Oppositionskandidat

Die SPD hat allerdings ihre leidvollen Erfahrungen mit kurzfristigen Aufschwüngen. Im September 2008 kürte sie Frank-Walter Steinmeier zu ihrem Kanzlerkandidaten. In den Umfragen machten die Sozialdemokraten kurzfristig vier Prozentpunkte auf die Union gut, doch das Hoch verflüchtigte sich schnell. Bei den Wahlen erlitt er das schlechteste SPD-Ergebnis nach dem Zweiten Weltkrieg: 23 Prozent.

2012, nach der Bekanntgabe von Peer Steinbrücks Kandidatur, verzeichneten die Umfrageinstitute ähnliche Sprünge, nur verpuffte der Effekt dieses Mal noch schneller. 1994 sahen die Demoskopen sowohl den Kandidaten Rudolf Scharping als auch seine Partei SPD noch wenige Monate vor der Wahl klar vor Helmut Kohl – damals schon rund zwölf Jahre Kanzler, wie Merkel heute – und seiner CDU. Doch die Sozialdemokraten brachen ein, Kohl blieb an der Macht.

Dementsprechend gelassen gibt sich die Union. "Wir freuen uns, dass der Patient SPD aus seiner Depression erwacht. Das tut der Demokratie gut", sagte Jens Spahn, einer aus der jungen Garde der Union, in der "FAZ". "Der Anfangshype um Schulz ist normal, wird aber schnell wieder vergehen, wenn die sachpolitische Auseinandersetzung beginnt."

Der Vorteil für ein "neues Gesicht" ist allerdings schwer zu bemessen. Das hänge von sehr vielen Faktoren ab, sagt Politikwissenschaftler Aiko Wagner.

"Was es definitiv gibt, ist eine Müdigkeit gegenüber der Regierung, das sehen wir auch international." Tatsächlich verliert die Union in den Umfragen, auch die Beliebtheitswerte der einstmals unantastbaren Kanzlerin rutschen ab. Und einen unübersehbaren Trumpf hat Martin Schulz: Er war nie Minister der Grossen Koalition. "Das Problem der SPD lag darin, dass sie in der Grossen Koalition keinen glaubwürdigen Gegenkandidaten aufbauen konnte. Jetzt kann Martin Schulz quasi aus der Opposition heraus agieren", sagt Aiko Wagner.

Keine Wechselstimmung

Nur: Eine richtige Wechselstimmung scheint nicht in der Luft zu liegen. Forsa-Chef Martin Güllner sagte der "Zeit", er sehe das überhaupt nicht. "Anders als der Verdruss über Helmut Kohl ist der Verdruss über Merkel bislang erst in wenigen Gesellschaftsschichten verbreitet." Und diese werden auch eher von der AfD und der Linkspartei erreicht als von Martin Schulz.

Ein Machtwechsel innerhalb der Grossen Koalition wäre ohnehin kein richtiger, wie Politikwissenschaftler Aiko Wagner meint. "Einen richtigen Wechsel gäbe es ja nur zu Rot-Rot-Grün. Da müssen wir abwarten, ob das in ein paar Monaten noch möglich erscheint." Das Szenario eines Lagerwahlkampfs könnte indes auch der Union zupass kommen. Sie könnte dann Stimmen mobilisieren, die ansonsten der FDP oder sogar der AfD zugute kämen.

Als Wahlforscher hat sich Wagner viel mit der Rolle der Spitzenkandidaten beschäftigt. Er meint, sie dienten vor allem der Mobilisierung der Wähler, die sich ohnehin vorstellen könnten, die Partei zu wählen. "Die Wählerpotenziale waren für SPD und Union im Prinzip immer ungefähr gleich gross", meint Wagner. Schulz könnte dieses Potenzial also wieder in Stimmen umwandeln. Ein "Höhenflug", wie es in einigen Medien heisst, wäre das noch lange nicht. Eher die Wiederannäherung an die normale Flughöhe.

Wann der Faktor Spitzenkandidat wirklich wichtig wird, lässt sich laut Wagner schwer sagen. Auf jeden Fall reiche es nicht aus, beliebt zu sein. "Eher schon müssen die inhaltliche Ausrichtung der Partei und der Kandidat zusammenpassen." Das war 2013 beim eher linken SPD-Wahlprogramm und dem eher konservativen Peer Steinbrück nicht der Fall. Eine ähnliche Gefahr droht nun der Union, die sich momentan wieder ein Stück nach rechts bewegt. "Angela Merkel steht aber eher für Schwarz-Grün", sagt Wagner.

Was Martin Schulz inhaltlich zu bieten hat, wissen die Wähler und Wählerinnen noch gar nicht genau. Vielleicht auch ein Grund für den Erfolg in den Umfragen, meint Aiko Wagner. "Merkels grössten Wahlerfolg 2013 verbinden wir nicht mit Inhalten. Sie hat einfach gesagt: 'Sie kennen mich.'"

Tatsächlich kann es von Nachteil sein, zu viel ändern zu wollen: Zwei Drittel der Wähler empfinden ihre eigene wirtschaftliche Lage laut ZDF-Politbarometer als gut. "Wir haben keine grossen wirtschaftlichen Probleme, also wäre eine Neuausrichtung wohl kein Gewinnerthema." Vielleicht hat Jens Spahn also recht: Abgerechnet wird, wenn klar ist, wofür dieser Martin Schulz steht, auf welche Wählerschichten er abzielt und welche Machtoptionen er ins Auge fasst.

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