Die vermeintlichen Volksparteien CDU/CSU und SPD stecken in der Krise - und diese könnte weitergehen. Andere europäische Länder haben es vorgemacht. Die Bildung neuer Regierungen wird sich künftig wohl schwieriger gestalten.

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Gerade mal 53,4 Prozent der Wähler haben sich bei der Bundestagswahl für die Unionsparteien oder die SPD entschieden. Werte, bei denen man von Volksparteien eigentlich nicht mehr sprechen kann.

Tradiertes Parteien-System hat sich überholt

Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 2002 machten noch 77 Prozent ihr Kreuz bei CDU/CSU oder SPD, in den 70er Jahren waren es zum Teil mehr als 90 Prozent.

Und diese Entwicklung kann durchaus noch weitergehen, das zeigt ein Blick in die Bundesländer: In Sachsen-Anhalt etwa verfehlten die vermeintlichen Volksparteien CDU und SPD 2016 sogar eine gemeinsame Mehrheit im Landtag, dort können sie seitdem nur mit Hilfe der Grünen regieren.

"Ich bin überzeugt, dass es für keine Partei einen Boden gibt, unter den sie nicht sinken kann", sagt Tim Spier, Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Siegen, im Gespräch mit unserer Redaktion.

"Wir müssen uns von der Vorstellung eines starren Parteiensystems wie in den 70er Jahren verabschieden." Warum diese Entwicklung? Und welche Folgen könnte sie haben?

"Keine breiten Wählerkoalitionen mehr"

Nach Spiers Einschätzung ist die Krise der Volksparteien kein Ergebnis der diesjährigen Bundestagswahlen. "Dahinter stehen Prozesse, die schon seit 20 Jahren zu beobachten sind."

Einerseits fühlen sich Menschen nicht mehr so stark an politische oder soziale Milieus gebunden. Früher wählten Arbeiter aus dem Ruhrgebiet fast so automatisch die SPD wie Kleinunternehmer aus Bayern bei der CSU ihr Kreuz machten.

"Menschen entscheiden bei Wahlen inzwischen zunehmend anhand von individuellen Interessen", sagt Spier. Den grossen Parteien falle es schwerer, es potenziellen Wählern recht zu machen.

"In der Regierungsverantwortung gelingt es ihnen nicht mehr, breite Wählerkoalitionen an sich zu binden."

Das hat einerseits mit der Individualisierung der Gesellschaft zu tun. Andererseits aber auch mit der Regierungspolitik der vergangenen Jahre.

Die SPD habe es immer noch nicht überwunden, dass ihr durch die Agenda-Reformen unter Gerhard Schröder Glaubwürdigkeit verloren ging, erklärt Tim Spier. "Und der Union ist es in der Flüchtlingskrise nicht gelungen, auch den rechtskonservativen Rand einzubinden."

In beiden Fällen mussten die Volksparteien auf drängende wirtschaftliche oder gesellschaftliche Herausforderungen reagieren.

In beiden Fällen haben die Spitzenpolitiker aber auch Fehler gemacht, sagt der Politikwissenschaftler. "Schröder und Merkel haben eher technokratisch weiterregiert, statt die Kritiker einzubinden."

Mehr Flexibilität bei Regierungsbildung nötig

Schwierige Regierungsbildungen wie nach dieser Wahl könnten in Deutschland nun häufiger anstehen.

Auch das haben die Bundesländer schon vorgemacht: Von Jamaika in Schleswig-Holstein über die Ampel-Koalition in Rheinland-Pfalz bis zu Rot-Rot-Grün in Thüringen und Berlin haben sich in den Landtagen schon Koalitionen gebildet, die auf Bundesebene derzeit noch auf Vorbehalte stossen.

"Die Parteien müssen in der Koalitionsbildung notgedrungen flexibler werden", sagt Tim Spier.

In anderen europäischen Ländern - etwa in Skandinavien - gehören Minderheitsregierungen zum politischen Alltag. Eine oder mehrere Parteien bilden dort die Regierung, obwohl sie keine Mehrheit im Parlament besitzen. Parlamentarische Mehrheiten müssen sie dann für jedes Gesetz neu schmieden und dafür auch wechselnde Oppositionsparteien einbinden.

In manchen Ländern funktioniert das, laut Politikwissenschaftler Spier ist das Modell hierzulande derzeit aber nicht denkbar:

"Minderheitsregierungen werden im stabilitätsgewohnten Deutschland negativ betrachtet. Sie würden eher als Zeichen der Schwäche der Regierungspartei ausgelegt werden."

Blick über die Grenzen: europäische Normalität

Der Vergleich mit dem Rest Europas zeigt aber auch: Deutschland ist alles andere als ein Einzelfall, eher ein Nachzügler.

"Wir haben in Europa inzwischen viele sozialdemokratische Parteien, die bei Wahlen zwischen 10 und 20 Prozent landen. In Ländern wie Italien sind ganze Parteiensysteme zusammengebrochen", erklärt Tim Spier.

Ein Trost dürfte der Blick über die Grenzen für Politiker der deutschen Volksparteien aber kaum sein - eher ein Ausblick, dass es noch schlimmer werden kann.

In Frankreich haben es die beiden früheren Grossparteien, Sozialisten und Konservative, im Mai nicht einmal in die Stichwahl um das Präsidentenamt geschafft.

In der Pariser Nationalversammlung stellen sie nur noch 142 der 577 Abgeordneten. In den Niederlanden erhielten Sozial- und Christdemokraten bei den diesjährigen Wahlen zusammengerechnet gerade mal 18,1 Prozent der Stimmen.

In Österreich könnten die beiden Volksparteien ÖVP und SPÖ laut aktuellen Umfragen bei der Nationalratswahl am 15. Oktober immerhin bei knapp über 50 Prozent liegen - das ist im Vergleich mit anderen Ländern inzwischen schon ein hoher Wert.

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