Mutiger Aufbruch oder manifestierter Stillstand - was würde Deutschland bei einer Neuauflage der Grossen Koalition erwarten? Wir haben das Sondierungspapier gemeinsam mit einem Zukunftsforscher unter die Lupe genommen. Sein Fazit: Nicht schlecht, aber ...
Das Sondierungspapier von Union und SPD ist ungewöhnlich ausführlich: Auf 28 Seiten skizzieren die Parteien, was sie in den kommenden vier Jahren vorhaben, sollten sie erneut eine Koalition bilden. Zum Vergleich: In den 1990er Jahren hatten selbst Koalitionsverträge nur wenige Seiten mehr.
Doch steckt in vielem auch viel Gutes? Gute Politik rüstet ein Land für die Zukunft, und Zukunftsforscher Daniel Dettling vom Zukunftsinstitut sagt: "Insgesamt hat die GroKo 3.0 die Herausforderungen erkannt, bleibt aber deutlich zu visionsarm und adressiert die Bürger als Akteur der Veränderungen nicht."
Im Gespräch mit unserer Redaktion zeigt er fünf Veränderungen auf, die Deutschland in der Zukunft meistern muss. Wir machen den Check, was das Sondierungspapier dazu verspricht.
1. Globalisierung und Digitalisierung
Daniel Dettling: "Zur grossen Herausforderung wird der Umgang mit der rasanten Geschwindigkeit der Globalisierung und Digitalisierung. Zwei Dinge sind hier besonders wichtig: Bildung und Entschleunigung. Das beginnt schon damit, dass die Bildungspolitik stärker auf digitale Medien und Medienkompetenz hin ausgerichtet werden muss.
Digitale Achtsamkeit beginnt bereits im Kindergarten. Wir müssen Kinder und ihre Eltern mit einem sorgsamen Umgang mit den neuen Medien vertraut machen. Erwachsene Menschen müssen lernen, mit dem rasanten Wandel umzugehen. Politik und Arbeitgeber müssen hierfür die nötigen Weichen stellen."
Was steht im Sondierungspapier?
Achtsamkeit und Entschleunigung? Diese beiden Worte kommen im Sondierungspapier nicht vor.
Zwar sprechen sich Union und SPD für eine gerechte ökonomische Verteilung des Wohlstands in Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung aus. Wie sie diese erreichen wollen, bleibt allerdings unklar.
Ähnlich verhält es sich mit der Medienbildung und Digitalisierung in Schulen. Union und SPD erwähnen diese Themen häufiger, konkret werden sie dabei jedoch nicht. Es ist von einer "Investitionsoffensive" die Rede, die Digitalisierung beinhalten soll.
Zum Thema Digitalisierung in der beruflichen Ausbildung steht im Papier: "Dazu gehören eine Ausstattungsoffensive für berufliche Schulen vor dem Hintergrund der Digitalisierung und eine Novelle des Berufsbildungsgesetzes."
2. Automatisierte Arbeitswelt
Daniel Dettling: "In den kommenden zehn Jahren werden bis zu 500.000 Jobs durch die Automatisierung wegfallen. Das betrifft vor allem Jobs im unteren und mittleren Bidlungssegment.
Zwar werden auch neue Jobs entstehen, allerdings werden diese die Lücke nicht vollständig schliessen können. Ziel muss es sein, Möglichkeiten der Umschulung oder Weiterbildung zu schaffen. Wir werden dank der Automatisierung weniger und besser arbeiten."
Was steht im Sondierungspapier?
Die Automatisierung wird gar nicht erwähnt, vielmehr wollen Union und SPD "das Zeitalter der Digitalisierung als Chance für mehr und bessere Arbeit nutzen".
Welche Arbeitsplätze zusätzlich enstehen sollen, bleibt ohne nähere Definition. Die Rede ist davon, "neue Geschätsmodelle zu fördern und gleichzeitig die Tarifbindung zu stärken".
3. Demografischer Wandel
Daniel Dettling: "Wir werden zwar immer älter, aber die Alten von heute sind nicht die Alten von morgen. Menschen, die heutzutage 70 sind, fühlen sich immer öfter wie 55 oder 60. Das bedeutet, dass die Rente mit 70 zur Norm wird.
Allerdings braucht man dazu Auszeiten. Das können Sabbaticals oder längere Reisen sein. Am wichtigsten wird eine Anpassung der Gesamtarbeitszeit an die jeweiligen Lebensumstände.
Das kann dann von der 28-Stunden-Woche bei Pflegefällen in der Familie bis zu weit über die 40-Stunden-Woche gehen, wenn man wer arbeiten will oder mehr Geld verdienen will. Die klassische Normbiografie wird zum Auslaufmodell."
Was steht im Sondierungspapier?
Die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 Jahren über 65 Jahren zur Rente mit 67 steht im Papier. An diesem so genannten Drei-Säulen-Modell wollen die Partner festhalten.
Ausserdem wollen sie Arbeitnehmern ermöglichen, ihre Wochenarbeitszeit freiwillig aufzustocken und nach dem offiziellen Renteneintrittsalter weiterzuarbeiten - Stichwort Flexi-Rente.
"Wir wollen einen Rahmen schaffen, in dem Unternehmen, Beschäftigte und die Tarifpartner den vielfältigen Wünschen und Anforderungen in der Arbeitszeitgestaltung gerecht werden können", heisst es.
4. Aufwertung der Provinz
Daniel Dettling: "Die meisten Menschen halten sich in ihrem täglichen Leben in einem 10-bis-15-Kilometer-Radius auf. Von der Globalisierung sind sie direkt kaum betroffen, obwohl sie von ihr profitieren. Was mit der Globalisierung einhergeht bezeichnen wir Zukunftsforscher als Glokalisierung: eine Stärkung der kleinen und lokalen Einheiten.
Die Provinz wird wieder wichtiger. Dafür müssen jedoch die richtigen Voraussetzungen für ein Leben ausserhalb der urbanen Ballungsgebiete geschaffen werden: Ein intelligenter und guter öffentlicher Nahverkehr, eine moderne soziale Infrastruktur und der Breitbandausbau."
Was steht im Sondierungspapier?
Der flächendeckende Ausbau schneller Gigabit-Netze soll bis zum Jahr 2025 abgeschlossen sein.
Die Investitionen in die Infrastruktur möchten die Sondierer auf heutigem Niveau halten. Einzelne Instrumente zur Verteilung von Steuermitteln für Verkehrsprojekte an Kommunen sollen optimiert werden. Sogar das autonome Fahren findet Wiederhall im Sondierungspapier.
5. Europa auf Bürgerebene
Daniel Dettling: "Europa ist die Antwort auf den neuen protektionistischen und populistischen Nationalismus. Woran es vor allem mangelt ist ein Europa der Bürger. Macron fordert einen europäischen Austausch für alle Schüler zum Pflichtprogramm zu machen.
Das geht in die richtige Richtung. Wir brauchen europäische Schulen und Universitäten, wenn wir Populismus und Fremdenfeindlichkeit besiegen wollen."
Was steht im Sondierungspapier?
Auch die möglichen GroKo-Partner messen Europa einen hohen Stellenwert zu. Sie haben das Thema ganz an den Anfang gestellt und betonen, dass ein vereintes Europa die beste Voraussetzung für eine gute Zukunft Deutschlands sei.
!Europa muss ein Kontinent der Chancen sein, besonders für junge Menschen", heisst es. Austauschprogramme wie "Erasmus+" werden explizit erwähnt
Die Sondierer setzen sich für einen gemeinsam europäischen Aufbruch mit Frankreich als engen Partner ein.
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