Haben die Parteien denn gar nichts gelernt? Noch vor Beginn der Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU und SPD werden über die Presse die ersten öffentlichen Giftpfeile abgeschossen. Parallelen zu den Jamaika-Verhandlungen werden offensichtlich.

Mehr aktuelle News im Überblick

Die eine Seite spricht von "Sprachgirlanden" und "PR-Geklingel", die andere von "SPD-Unfug" und "massivem Führungsversagen".

Ab dem 7. Januar wollen die Spitzen von Union und SPD die Möglichkeit einer Regierungsbildung sondieren.

Doch schon vor Beginn der offiziellen Gespräche über eine grosse Koalition (GroKo) sorgen öffentliche Scharmützel für Unruhe.

Die Parteien scheinen aus den negativen Erfahrungen der gescheiterten Jamaika-Sondierungen zwischen Union, FDP und Grünen wenig gelernt zu haben.

Die Liberalen machten für das Ende unter anderem das mangelnde gegenseitige Vertrauen und das ständige Durchstechen von Verhandlungsdetails an die Presse verantwortlich. Nun scheint das Spiel von vorne zu beginnen.

Gegenseitige Vorwürfe

Was war genau geschehen? Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner nannte einen Kompromissvorschlag des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) zum Flüchtlingsnachzug "Sprachgirlanden" und "PR-Geklingel".

Stegner forderte laut "Süddeutscher Zeitung" die "unmissverständliche Achtung von Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention".

Auch der geschäftsführende Aussenminister und Vize-Kanzler Sigmar Gabriel schaltete in den Attacke-Modus. Gabriel sagte der "Bild", wenn das Kanzleramt "alle Vorschläge zur EU-Reform weiterhin ablehnt", dann werde es keine Koalition mit der SPD geben. Bei der Neuausrichtung der Krankenversicherung forderte er ebenfalls Entgegenkommen.

Die CDU/CSU müsse "aus der Deckung kommen" und erklären, was sie eigentliche wolle. Gabriels Äusserungen stiessen, weil er selbst gar nicht zum Sondierungsteam gehört, auch in der eigenen Partei auf Kritik.

Der neue sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) teilte ebenfalls aus. Er sprach von "SPD-Unfug", den es abzuwehren gelte. "Hier sind etliche Genossen unterwegs, die mit Maximalforderungen offenbar die Gespräche unmöglich machen wollen", sagte Kretschmer der "Bild". SPD-Chef Martin Schulz warf er "massives Führungsversagen" vor. Ein Versuch, sich bundespolitisch zu profilieren?

Experte: Leaks "nach innen gerichtet wichtig"

Eine Erklärung für die öffentlichen Scharmützel auf Seiten der SPD ist die Unbeliebtheit der Grossen Koalition in Teilen der Partei.

Denn die Entscheidung von Martin Schulz, direkt nach der Wahl im September zum Wohle seiner stark geschwächten Partei keine erneute GroKo einzugehen, stiess überwiegend auf Zustimmung. Applaus brandete auf, als er seine Erklärung abgab.

Später folgte die Kehrtwende. Da die Sozialdemokraten am Ende ihre Mitglieder über die Koalitionsbildung abstimmen lassen wollen, muss die skeptische Basis nun ins Boot geholt werden - mit möglichst vielen sozialdemokratischen Inhalten im späteren Koalitionsvertrag. Die SPD braucht "Trophäen", schreibt die "Süddeutsche Zeitung".

Und diese Forderungen werden nun öffentlich vorgebracht. Der Medien-Experte Jo Groebel erklärte unserer Redaktion kürzlich die Ursachen für solche Indiskretionen bei Verhandlungen: "Indem die Parteien gezielt Leaks setzen, signalisieren sie der Öffentlichkeit, dass sie am Ball bleiben. Und sie können zeigen, dass sie weiter an ihren Standpunkten festhalten - auch nach innen gerichtet, ist das wichtig."

Im konkreten Fall führen die Forderungen der SPD zu Unmut in der Union, in der vor allem die CSU das konservative Profil schärfen will.

Umso komplizierter wird die Lage, weil in der SPD auch andere Regierungsmodelle offen diskutiert wurden: Eine Minderheitsregierung oder eine sogenannte Kooperationskoalition (KoKo), bei der nur zentrale Themen vorab abgestimmt werden. Bei allen anderen Vorhaben müsste sich die Union Mehrheiten mit den anderen Parteien beschaffen. In der Union werden deshalb Vorwürfe laut, die SPD wolle in Wahrheit gar keine GroKo-Neuauflage.

"Martin Schulz sollte hier für Ordnung sorgen oder klar sagen, wenn er ein Scheitern will. Ich kann die SPD nur auffordern, zur Vernunft zurückzukehren", sagte Sachsens Regierungschef Kretschmer der "Bild".

Und schliesslich sind die Parteichefs Angela Merkel, Martin Schulz und Horst Seehofer derzeit geschwächt. Dies erhöht nicht eben die parteiinterne Disziplin - und begünstigt Alleingänge über die Presse.

Auch im Fall der eigenmächtigen Glyphosat-Abstimmung von Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) in Brüssel war das zu sehen.

SPD: "Fehler von Jamaika nicht wiederholen"

Theoretisch hatte man sich in der SPD Disziplin verordnet. Bei der Präsidiumssitzung vor knapp zwei Wochen hiess es laut "FAZ", man wolle "die Fehler von Jamaika nicht wiederholen" - also aus Sondierungen nicht Koalitionsgespräche machen, sondern nur die grossen Fragen besprechen und die Kommunikationsdisziplin einhalten.

Zwischen den grossen Tieren Merkel, Schulz und Seehofer scheint die Chemie trotz einiger harter Attacken im Wahlkampf zu stimmen. "Persönliche Befindlichkeiten zwischen den drei Parteichefs dürften die Sondierung also nicht beschweren", glaubt die "Süddeutsche Zeitung".

In den darunter liegenden Ebenen trifft das nicht immer zu, besonders wenn Eigeninteressen oder Emotionen ins Spiel kommen. "Manchmal ist es auch so, dass der ein oder andere Spitzenpolitiker (...) ganz einfach mal die Nerven verliert. Er positioniert sich quasi aus dieser Emotionalität heraus. Menschlich ist das nachvollziehbar und verständlich", meint Medien-Experte Groebel.

In den kommenden Wochen und Monaten wird ein zähes Ringen zwischen Union und SPD erwartet. Taktik, Emotionen, persönliche Befindlichkeiten: All dies wird weiter Teil der Verhandlungen sein.

Und damit vermutlich auch die öffentlichen Scharmützel. Für Jo Groebel gehört das alles dazu - zum "Spiel der Politik".

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.