Mehr als jeder zweite Deutsche verbindet die EU mit "wuchernder Bürokratie". Diesen Verdruss nutzen die Parteien im Europawahlkampf. Aber ist es wirklich so schlimm? Und was hat Edmund Stoiber damit zu tun?
Wo die Europäische Union weniger aktiv sein sollte? Für
Weniger EU-Bürokratie als eines der drängendsten Bürger-Anliegen, so bestreitet CSU-Politiker Weber, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, den Wahlkampf für die Europawahl Ende des Monats. Deshalb will der 46-Jährige - sollte er neuer Chef der EU-Kommission werden - 1.000 veraltete EU-Vorschriften abschaffen. Welche das sein sollen, hat er bisher nicht gesagt.
Bürokratie wird zum Wahlkampfthema
Brüssel, das Bürokratiemonster. Es ist ein Klischee, das nicht nur Weber bemüht. Auch die anderen Parteien im Bundestag fordern in ihren Wahlprogrammen, dies oder jenes in der EU müsse entbürokratisiert werden. Die FDP widmet dem Thema ein ganzes Kapitel, die AfD wirft der Staatengemeinschaft "Zentralismus und Bürokratie" vor und fordert "Wettbewerb statt Bürokratie".
Und auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz schreibt hemdsärmelig auf Twitter: "Der Hausverstand muss in der EU wieder den Ton angeben. Wir brauchen weniger Regeln und weniger Bürokratie."
Dass Parteien und Politiker mit dem Thema punkten wollen, ist nachvollziehbar. "Was bedeutet die EU für Sie?", fragt das Allensbach-Institut regelmässig. Mehr als jeder zweite Deutsche (57 Prozent) wählte 2018 die Antwortmöglichkeit "Wuchernde Bürokratie, ein grosser, schwer zu durchschauender Beamtenapparat". 2010 waren es noch zehn Prozentpunkte weniger.
Und es stimmt ja: Die EU ist kompliziert. Es gibt etliche Institutionen; ständig kommen neue Regeln hinzu; Fördergelder zu beantragen, ist eine Wissenschaft für sich; und dann sind da noch Zehntausende Beamte - was machen die eigentlich alle?
Was tut die EU gegen Bürokratie?
Der Vorwurf ist also nicht ganz unbegründet. Das hat auch die EU-Kommission, die Verwaltung der 28 EU-Länder, erkannt. Fragt man bei der Behörde, was sie dagegen tut, erhält man eine lange Liste.
Die Kommission habe unter dem scheidenden Chef Jean-Claude Juncker 75 Prozent weniger Gesetze vorgeschlagen als die Vorgänger. 134 Vorschläge habe man zudem zurückgezogen, viele Vorschriften vereinfacht. Man wolle nur dort aktiv werden, wo der Bürger tatsächlich einen Nutzen davon hat.
Bereits 2015 hatte die Kommission angekündigt, Gesetze sollten verständlicher und einfacher handhabbar, unnötige Kosten vermieden werden.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verteidigte die EU jüngst gegen den Vorwurf überbordender Bürokratie. Mit Blick auf die 32.000 Kommissionsbeamten sagte er in der Zeitschrift "DB mobil": "Das klingt viel, aber wenn man sich die grösseren Städte in Deutschland anschaut, dann sieht man, dass eine Millionenstadt bei uns etwa 17.000 Beamte und Angestellte hat. Dabei leben in der Europäischen Union fünfhundertmal so viele Menschen."
Laut Kommission gehen sechs Prozent des EU-Budgets für die Verwaltung drauf, von 2014 bis 2020 würden jedoch jährlich 1,5 Milliarden Euro eingespart.
In den vergangenen fünf Jahren hätten die EU-Institutionen zudem fünf Prozent ihres ständigen Personals abgebaut. Das Einstiegsgehalt sei verringert, Aufstiegsmöglichkeiten verzögert und Pensionen reduziert worden. Ein Nebeneffekt davon sei, dass es in vielen Ländern - auch in Deutschland - schwieriger werde, geeignetes Personal zu finden.
"Der Bürger ist janusköpfig"
Es wird also etwas getan gegen zu viel Bürokratie - dennoch hält sich der Vorwurf hartnäckig. Weshalb?
"Der Bürger ist janusköpfig", sagt einer, der es wissen muss.
Zugleich würden die Ansprüche - egal ob im Umwelt- oder Verbraucherschutz - immer höher. So hat die EU zuletzt etwa ein Einwegplastik-Verbot eingeleitet oder für einen besseren Datenschutz gesorgt.
Stoiber sagt jedoch auch, dass es bei der EU-Kommission mittlerweile ein Bewusstsein dafür gebe, dass bei neuen Gesetzen auch der bürokratische Aufwand berücksichtigt werden müsse - und dass nicht alles auf europäischer Ebene geregelt werden müsse.
Stoibers Expertengruppe hat dazu beigetragen, mehr als 33 Milliarden Euro an Bürokratiekosten einzusparen. Mehr als die Hälfte davon dadurch, dass Finanzämter von Unternehmen statt Rechnungen in Papierform auch elektronische Belege bei der Umsatzsteuer akzeptieren. Die Klagen über zu viel Bürokratie kommen häufig aus der Wirtschaft.
"Bürokratie" - ein Kampfbegriff der Politik
Wie Stoiber beschäftigt sich auch Pascale Cancik seit Jahren mit dem Thema Bürokratie und EU-Kritik - allerdings aus wissenschaftlicher Perspektive. Die Rechtswissenschaftlerin der Universität Osnabrück sieht in dem Wort "Bürokratie" auch einen Kampfbegriff, der vor allem deshalb so gut funktioniert, weil er so vielschichtig ist und als Kritikbegriff eine lange Tradition habe.
Ein Politiker sage "Bürokratie" - und im Kopf seiner Zuhörer entstehe "eine ganze Hintergrundwand von Vorstellungen": "Wir wissen, dass es irgendwie schlecht ist, dass es schriftlich ist und kompliziert, wir denken an graue Beamte und viel Papierkram", sagt Cancik. "In einer stark emotionalisierenden Gesellschaft funktioniert das sehr gut."
Von diesem "Charme des Vagen" profitierten Politiker. Cancik sieht in der Ungenauigkeit jedoch ein grundsätzliches Problem. "Die Bürokratie-Rhetorik macht unklar, worum es geht, und die erforderliche Kritik wird dadurch eher verdrängt als dass sie geleistet wird."
Politik macht es sich zu einfach
Vordergründig sorgt Bürokratie-Kritik bei vielen für Zustimmung - worum es konkret geht, bleibt allerdings oft unklar. Cancik zufolge setzen Politiker diesen Mechanismus bewusst ein. Der Verweis auf "die Bürokratie" ermögliche ihnen, sich von Dingen - an denen sie womöglich sogar beteiligt waren - zu distanzieren.
Das Begriffspaar "Brüsseler Bürokratie" sei folglich eine doppelte Distanzierung. Cancik spricht vom "Verschieben und Verschleiern eigener Verantwortung". Ihr Aufsatz zu dem Thema heisst "Die EU als Bürokratie der Anderen - zur Semantik gegenwärtiger EU-Kritik."
Politiker machen es sich mit dem Verweis auf zu viel Bürokratie mitunter also einfach. Und der Blick auf die Umfragen gibt ihnen ja Recht. "So ein Narrativ, so eine Erzählung kriegt eine Eigendynamik", sagt Cancik. Und Stoiber sagt: "Der Vorwurf ist immer noch da und wird auch bleiben." © dpa
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