Einst sass Fabio De Masi für die Linkspartei im Europarlament. Nun tritt er erneut bei der EU-Wahl an – als Spitzenkandidat des "Bündnis Sahra Wagenknecht". Ein Gespräch über europäische Sicherheitspolitik, Gas aus Russland und Asylverfahren an den EU-Aussengrenzen.
Als unermüdlicher Aufklärer von Finanzskandalen hat sich Fabio De Masi parteiübergreifend Anerkennung erarbeitet. Ob Wirecard, Warburg oder Cum-Ex – der Deutsch-Italiener ist nicht bekannt dafür, locker zu lassen. Im Februar 2021 verkündete er jedoch überraschend das Ende seiner politischen Karriere und kehrte dem Bundestag sowie später auch der Partei Die Linke den Rücken.
Doch sein Abschied von der Politik währte nicht lange: Im Januar schloss er sich der neuen Partei von
Wenn es nach De Masi geht, müsste sich die Europäische Union grundlegend reformieren. Er glaubt, die EU mische sich bei zu vielen Dingen in nationale Angelegenheiten ein. "Dort, wo die EU wirklich Gutes bewirken könnte, liefert sie hingegen nicht." Im Interview erklärt De Masi, welche Zukunft für den Staatenbund ihm vorschwebt.
Herr De Masi, die Formel des Bündnis Sahra Wagenknecht für die Europäische Union lautet "weniger ist mehr". Wie ist das gemeint?
Fabio De Masi: Uns stört, wie die EU Druck auf die Privatisierung der kommunalen Infrastruktur, etwa bei Wasser oder Energienetzen, ausübte. Auch wurden sinnvolle Vorgaben für Tariflöhne bei öffentlichen Aufträgen vom Europäischen Gerichtshof gekippt. Dort, wo die EU wirklich Gutes bewirken könnte, liefert sie hingegen nicht. Bei der Bekämpfung des Steuerdumpings von Internet-Konzernen müssten Staaten wie Deutschland und Frankreich endlich vorangehen und Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen verhängen. Dann liessen sich europäische Mindeststeuern durchsetzen und unser Mittelstand vor unfairen Wettbewerb schützen.
In Ihrem EU-Programm fordern Sie, dass Europa ein "eigenständiger Akteur auf der Weltbühne" wird. Wie kann das ohne eine weitere Kompetenzverlagerung nach Brüssel funktionieren?
Die EU sollte ihre Interessen unabhängiger von den USA und Russland formulieren. Ich bin aber dafür, dass das Recht des Bundestages über Kriegseinsätze der Bundeswehr zu entscheiden, in Deutschland bleibt. Spanien hat diesen Parlamentsvorbehalt nach dem Irak-Krieg gestärkt. Wenn nur noch Brüssel entscheidet, schwächt dies die Demokratie.
Sie schreiben, die EU müsse sich auf ihre "sicherheitspolitische Eigenständigkeit" besinnen. Impliziert das nicht eine stärker zentralisierte europäische Aussen- und Verteidigungspolitik?
Warum?
Wenn die EU aussenpolitisch als Einheit auftreten soll, also als echter Akteur in der Welt, dann müssen die Nationalstaaten doch gewisse Kompetenzen abgehen.
Deutschland und Frankreich haben sich nicht direkt am Irak-Krieg beteiligt – ganz ohne Zentralisierung. Und Frau Strack-Zimmermann, FDP-Spitzenkandidatin zur Europawahl, teilte in sozialen Medien Verunglimpfungen eines Parteifreundes, wonach der EU Aussenbeauftragte Joseph Borrell ein "Hamas-Sympathisant" sei. Das klingt nicht nach Harmonie. Die EU ist mittlerweile überdehnt und es gibt Zerfallsprozesse wie den Brexit. Die SPD-Spitzenkandidatin Katharina Barley brachte etwa eine Europäisierung der französischen Atombombe ins Spiel. Aber wer drückt dann den Knopf? Macron oder von der Leyen? Das sind Phantomdebatten.
Sie beschreiben eine EU, die nicht in der Lage ist, eine einheitliche Verteidigungs- und Aussenpolitik zu verfolgen. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Programm, dass die EU nicht mehr der "Juniorpartner" der USA sein soll. Kann Europa auf den Schutz der USA verzichten?
Deutschland hat einen Rüstungsetat, der vergleichbar ist mit Frankreich und Grossbritannien. Die Probleme bei der Bundeswehr haben wenig mit Geld und viel mit Beschaffungsfilz zu tun. Die Rheinmetall-Aktie geht durch die Decke, weil wir 100 Milliarden im schwarzen Loch des Rüstungsfilz versenken. Frau von der Leyen wurde für diesen Filz einst sogar zur Kommissionspräsidentin befördert.
Denken Sie nicht, dass Putins Russland eine militärische Bedrohung für die EU ist?
Die europäischen Nato-Staaten haben jetzt schon die dreifachen Rüstungsausgaben Russlands. Russland beisst sich in der Ukraine die Zähne aus und muss in Nordkorea um Waffen betteln. Putin steht nicht morgen vor dem Brandenburger Tor. Es wäre für Putin doch 2014 viel leichter gewesen, in der Ukraine durchzumarschieren. Er führt nun einen völkerrechtswidrigen Krieg, weil er Russland durch die Nato eingekreist wähnt. Zudem befürchtet er Einfluss in der Ost-Ukraine zu verlieren. Dieser Krieg muss mit der Hilfe Chinas eingefroren werden. Es gibt leider zu viele Sesselgeneräle in Deutschland, die Forderungen nach Diplomatie niederbrüllen. Aber im Unterschied zu diesen Lautsprechern war ich im Fokus eines mutmasslichen Spions der Russen. Dieser Helfer des flüchtigen Wirecard-Managers Jan Marsalek wurde gerade in Österreich verhaftet. Der Vorwurf, wir wären beim BSW gegenüber Putin naiv, ist daher absurd.
Sie fordern in Ihrem Programm eine Abrüstung in der EU und den Abzug der US-amerikanischen Atombomben aus Europa.
Das war noch Position der FDP unter Guido Westerwelle: Abrüstung ist immer ein Geschäft auf Gegenseitigkeit und würde auch Russland verpflichten. Die New York Times warnt aktuell wieder vor einem Atomkrieg.
Kritik an der Architektur der Eurozone
Was Sie nicht fordern, ist ein Austritt aus dem Euro. Tatsächlich wird die gemeinsame europäische Währung im BSW-Programm gar nicht erwähnt. Was ist Ihre Meinung zu dem Thema?
Ich habe die Architektur der Eurozone bereits vor der Euro-Krise kritisiert. Deutschland hat über viele Jahre enorme Exportüberschüsse erwirtschaftet und andere EU-Länder haben sich verschuldet, um Made in Germany zu kaufen. Früher konnte dies durch die Auf- und Abwertung der nationalen Währungen ausgeglichen werden, aber das ist mit dem Euro nicht mehr möglich. So rutschten auch Spanien und Irland in die Euro-Krise, obwohl diese Länder zu Beginn der Finanzkrise eine niedrige Staatsverschuldung hatten. Es gab damals Zweifel, ob die EZB nach den teuren Bankenrettungen wie in anderen Ländern die Staatsfinanzen garantiert.
Das ist keine Absage an den Euro.
Nein. Aber wir brauchen Massnahmen gegen diese Ungleichgewichte, sonst kann es wieder krachen. Deutschland muss Löhne und öffentliche Investitionen stärken. Dazu müssen die europäischen Schuldenbremsen reformiert werden. Kredite für Investitionen müssen möglich sein, um mit den USA und China mitzuhalten. Aber SPD, Grüne und FDP wollen den Stabilitätspakt nur für militärische Ausgaben anfassen. Damit verspielen wir die Zukunft.
In Ihrem Programm fordern Sie einerseits "wirtschaftspolitische Souveränität" für die EU-Mitgliedsstaaten. Andererseits soll die EU einen fairen Wettbewerb gewährleisten, eine einheitliche Unternehmenssteuer durchsetzen und eigene Investitionen tätigen. Sehen Sie darin keinen Widerspruch?
Nein. Denn eine Reform der europäischen Schuldenbremsen würde mehr nationale Investitionen ermöglichen. Bei den Mindeststeuern soll die EU koordinieren. Derzeit darf sie das gar nicht laut EU-Verträgen.
Genau das wäre ja ein Eingriff in die wirtschaftspolitische Souveränität der Mitgliedsstaaten.
Ja, aber an dieser Stelle wäre er auch sinnvoll, weil es um internationale Unternehmen geht. Wir sagen ja nicht, wir wollen gar kein Europa. Die EU soll sich um die Dinge kümmern, mit denen die Nationalstaaten überfordert sind.
Das BSW wünscht sich ein von den USA unabhängigeres Europa. Gleichzeitig wollen Sie wieder Gas aus Russland beziehen. Hiesse das nicht, sich von einem anderen Staat abhängig zu machen?
Natürlich ist es richtig, bei der Energie nicht nur auf ein Pferd zu setzen. Wir wollen keine einseitige Abhängigkeit von Russland, aber auch nicht vom schmutzigen US-Fracking Gas oder der saudischen Diktatur. Russlands Wirtschaft wächst und Deutschlands Wirtschaft schrumpft. Die Sanktionsspirale schadet uns und hindert Putin nicht am Krieg. Putin bezahlt seine Soldaten zudem in Rubel und nicht in unseren Gas-Euros.
Der Zustand vor dem Ukraine-Krieg, in dem Deutschland fast ausschliesslich aus Russland Gas bezogen hat, wäre aber auch nicht in Ihrem Sinne?
Es waren vor dem Ukraine-Krieg etwa 55 Prozent des Erdgases, die aus Russland kamen. Es geht jedoch nicht darum, nur den Gashahn wieder aufzudrehen. Natürlich müssen wir auch in Erneuerbare Energien investieren. Und Russland muss sich an den Verhandlungstisch begeben.
Sie fordern grundlegende Änderungen an der europäischen Flüchtlingspolitik. Die EU-Institutionen haben sich nun auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Sehen Sie hier die Europäische Union auf dem richtigen Weg?
Viele Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen, haben keinen Anspruch auf Asyl und verharren bei uns dann in der Perspektivlosigkeit. Das schafft soziale Probleme bei Wohnungen und Schulen. Wir sollten ihre Herkunftsländer aufbauen. Wirtschaftliche Zuwanderung müssen wir auf die Integrationsfähigkeit der Kommunen begrenzen. Das Asylrecht und der Schutz vor Krieg müssen gewährt werden. Wir fordern jedoch Asylverfahren an den EU-Aussengrenzen.
Die sollen jetzt auch kommen. Ein Schritt in die richtige Richtung?
Ja. Aber die Verfahren müssen Bedürfnisse von Kindern respektieren. Doch wir müssen aufhören, mit deutschen Waffen Benzin in ein Feuer zu giessen. In Gaza sind 1,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Nun gibt es Angriffe Irans. Ohne friedliche Lösung des Nahost-Konfliktes drohen neue Brandherde und auch Fluchtbewegungen.
Gibt es Ihrer Meinung nach denn etwas, das in der EU wirklich gut läuft?
Wenn Kommissionspräsidentin von der Leyen sagt, sie wolle künftig die Rüstungsbeschaffung nach dem Vorbild der Impfstoffbeschaffung organisieren – also Milliardendeals per SMS –, wird mir eher angst und bange.
Es wird also immer nur schlimmer?
Nein. Die EU hat etwa eine vernünftige Mindestlohnrichtlinie verabschiedet – die erfüllen wir in Deutschland aber nicht. Demnach müsste der Mindestlohn bei uns 14 Euro betragen. Und es ist gut, dass die europäische Staatsanwaltschaft wegen von der Leyens Pfizer-Deal ermittelt – auch wenn kaum jemand in Deutschland darüber berichtet.
Über unseren Gesprächspartner
- Fabio De Masi wurde 1980 im hessischen Gross-Gerau geboren. Der Sohn eines Italieners und einer Deutschen studierte Volkswirtschaft und Internationale Beziehungen in Hamburg, Berlin und Kapstadt. Von 2014 bis 2017 sass De Masi für die Linkspartei im Europäischen Parlament und von 2017 bis 2021 im Deutschen Bundestag. Hier wurde er vor allem durch seine Rolle im Untersuchungsausschuss zur Wirecard-Affäre deutschlandweit bekannt. Im September 2022 trat De Masi aus der Linkspartei aus und im Januar 2024 dem "Bündnis Sahra Wagenknecht" bei. Zusammen mit Thomas Geisel bildet er das Spitzenduo der neuen Partei für die kommende Europawahl.
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