Unmittelbar vor der Europawahl fliegen in der italienischen Regierung die Fetzen: Die Koalitionspartner tragen jede Meinungsverschiedenheit lautstark und medienwirksam aus, manche Beobachter sehen die Koalition gar kurz vor dem Zerbrechen. Doch ein italienischer Politikwissenschaftler vermutet hinter dem lauten Streit vor allem eins: Wahlkampfstrategie.

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Die aus der populistischen Fünf-Sterne-Partei und der rechtsnationalen Lega bestehende Koalition in Rom ist zerstritten wie nie zuvor und trägt ihre Differenzen in den Zeitungen des Landes aus.

Zwar sind die Italiener von ihren Politikern einen raueren Ton gewöhnt, als es in Deutschland üblich ist, doch mit dem Einzug der neuen Regierung ins Parlament im Mai vergangenen Jahres begann im politischen Italien eine neue Zeitrechnung, die die Stabilität des Landes bedroht. Wie konnte es dazu kommen?

Der Politikwissenschaftler Lorenzo Castellani von der LUISS Universität Guido Carli in Rom erklärt, dass die aktuellen Machtverhältnisse eine "grosse Veränderung" für das Land gewesen seien, da die moderaten Zentrumsparteien, die in den vergangenen Jahrzehnten die italienische Politik dominiert hatten, aus dem Amt gefegt worden sind.

Um diesen Erfolg zu erzielen, mussten sich allerdings zwei Parteien verbinden, die eigentlich sehr gegensätzlich sind: die populistische Fünf-Sterne-Partei unter der Führung von Luigi Di Maio und die nationalistische Lega mit ihrem Vorsitzenden Matteo Salvini.

Grundverschiedene Ausrichtungen

Auch ihre Wählerschaften sind dementsprechend grundverschieden: Die Anhänger der Fünf Sterne haben genug von den Politikern, die das Land über Jahre regiert haben. Sie stammen typischerweise aus dem Süden des Landes, in dem eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht; die Partei konnte sie mit ihrem Wahlversprechen, ein Bürgereinkommen einzuführen, locken.

Salvinis Lega hingegen rekrutiert ihre Wählerschaft eher im wirtschaftsstarken Norden des Landes. "Die Lega-Wähler sind daran interessiert, dass die Steuern für Gewerbetreibende gesenkt werden, die Immigration eingedämmt wird und sie stehen der EU skeptisch gegenüber", erklärt Castellani.

Die gegensätzliche Ausrichtung der Koalitionspartner zieht sich wie ein roter Faden durch die Regierung und ist vor der Europawahl wieder besonders deutlich spürbar geworden. Ansatzpunkte für Dissens gibt es für die Parteivorsitzenden genug: Etwa den Streit um Armando Siri, Staatssekretär im Transportministerium und Vertrauter von Lega-Chef Salvini, gegen den die Staatsanwaltschaften von Rom und Palermo wegen angeblicher Korruption ermitteln.

Als wegen des Falls das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Regierung noch weiter zu sinken drohte, forderte Ministerpräsident Guiseppe Conte Siri mehrfach zum Rücktritt auf, den dieser jedoch verweigerte. Zwei Wochen stritten die Parteien über sein Schicksal, bis er schliesslich von Conte per Enthebungsdekret entlassen wurde. Nur eine Episode von vielen, die zeigt, wie tief der Graben zwischen den Regierungspartnern geworden ist.

Der Politologe Castellani glaubt allerdings, dass die intensiven innenpolitischen Streitigkeiten vor der Europawahl von den Parteien gewollt sind und genutzt werden, um sich für ihre jeweilige Wählerschaft zu positionieren. Während einige politische Beobachter davon ausgehen, dass die Regierungskoalition nach der Europawahl aufgrund der Spannungen auseinanderbricht, ist Castellani anderer Ansicht.

Salvini will die europäische Rechte anführen

"Salvinis Ziel ist, bei der Europawahl möglichst viele Stimmen zu erhalten, um seine Lega zur stärksten rechten Partei der EU zu machen und so zum Anführer der rechten Allianz zu werden", sagt er.

Auch innenpolitisch könne Salvini es ausnutzen, wenn die Machtverhältnisse sich im Vergleich zum Ergebnis der Parlamentswahl vor einem Jahr, bei der seine Partei zweitstärkste Kraft hinter den Fünf Sternen geworden war, zu seinem Vorteil entwickeln, wie aktuelle Umfragewerte es vermuten lassen.

"Salvini könnte etwa versuchen, den Koalitionsvertrag neu auszuhandeln, damit die Interessen seiner Partei stärker vertreten sind", vermutet Castellani. Dass Salvini seine Popularität nutzen könnte, um die Regierung zerbrechen zu lassen und noch 2019 Neuwahlen auszurufen, hält Castellani für sehr unwahrscheinlich. Denn im Herbst muss die Regierung das neue Haushaltsgesetz verabschieden, von dessen Inhalt die wirtschaftliche Stabilität des Landes abhängt. "Es wäre für beide Parteien nicht von Vorteil, diesen Vorgang durch Neuwahlen zu gefährden."

Schon die Verhandlung des Haushaltsplans für 2019 hatte die neue Regierung an den Rand des Kollaps gebracht: Mit einer Staatsverschuldung von 131 Prozent der Wirtschaftsleistung gehört das Land zu den meistverschuldeten Ländern der EU; nur Griechenland steht noch schlechter da.

In zähen Verhandlungen mit der europäischen Kommission konnte Italien damals durchsetzen, ein Haushaltsdefizit von 2,04 Prozent genehmigt zu bekommen. Doch die Prognosen für das Defizit basieren auf Wachstumsversprechen, die, wie es nun aussieht, nicht eingehalten werden können.

Darauf wies zuletzt die Wachstumsprognose der EU hin, die Italien das schwächste Wachstum in der gesamten EU attestierte: Im laufenden Jahr wird die Wirtschaft demnach nur um 0,1 Prozent wachsen. Unternimmt die Regierung nichts, wird das Defizit auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen und damit den von der Kommission gesetzten Rahmen sprengen.

Ursachen des schwachen Wirtschaftswachstums

Die schlechte Wachstumsprognose für Italien liegt an der Verlangsamung der Weltwirtschaft insgesamt, aber auch an den bisher umgesetzten Massnahmen der Regierungskoalition. Anstatt strukturelle Reformen einzuleiten und etwa in Infrastruktur zu investieren oder die schwerfällige Bürokratie zu beschleunigen, haben die Parteien sich dafür entschieden, ihre teuren Wahlversprechen umzusetzen.

Dazu gehören die Einführung eines Bürgereinkommens, die Absenkung des Rentenalters und Steuerkürzungen. "Die Rentenreform ist ein sehr teures Wahlgeschenk an die älteren Wähler, das der italienischen Wirtschaft nicht auf die Sprünge hilft", kritisiert Castellani.

Die Einführung des Bürgereinkommens könne zwar positive Auswirkungen auf Wachstum und die Beschäftigungsquote haben, doch sei es noch zu früh, um zu beurteilen, ob diese Effekte erreicht würden, da das Einkommen erst seit rund einem Monat ausgezahlt wird.

Die vielversprechendste Massnahme der Regierung in Hinblick auf das Wirtschaftswachstum ist nach Ansicht Castellanis die Absenkung des Steuersatzes für kleine und mittelgrosse Unternehmen, die einen Grossteil der italienischen Wirtschaftskraft ausmachen.

Im Angesicht der innenpolitischen Streitigkeiten und der schlechten Wachstumsprognose wurden zuletzt jedoch auch die internationalen Finanzmärkte nervös und der Risikoaufschlag für italienische Staatsanleihen stieg erstmals seit Anfang Februar über die 280-Punkte-Marke. Mittlerweile hat er sich zwar wieder leicht erholt und liegt bei 267 Punkten, doch eine weitere Auseinandersetzung zwischen Di Maio und Salvini kann ihn leicht wieder in die Höhe treiben.

Doch darin allein sieht Castellanis noch kein Problem: "Wir sind in Italien Werte von über 300 Punkten gewohnt, bei 280 werden wir noch nicht nervös." Sollte das wirtschaftliche Umfeld des Landes jedoch weiterhin von schlechten Zahlen und Unsicherheit geprägt sein, liegt auch die 300-Punkte-Grenze nicht mehr in weiter Ferne.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit dem Politikwissenschaftler Lorenzo Castellani, LUISS Guido Carli Universität Rom
  • EU Frühjahrsprognose 2019
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