Einen extremen Rechtsruck gab es bei den Europawahlen nicht. Die Schlüsselrolle im Parlament könnten in Zukunft dagegen Liberale und Grüne spielen. Und im offenen Rennen um den Chefposten der EU-Kommission hat erstmals eine Frau passable Chancen.

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Zur wichtigsten Europawahl aller Zeiten hatten Parteien und Medien die Abstimmung in diesem Jahr erhoben. Vor allem ein Erdrutschsieg der Rechtspopulisten hätte die EU wohl vor Probleme gestellt. Doch die Ergebnisse sind zwiespältig. Diese Lehren sind aus den Wahlen zum Europäischen Parlament zu ziehen:

1. Die rechte Welle ist ausgeblieben

Frankreich, Italien, Grossbritannien, Polen: In grossen EU-Ländern haben nationalkonservative oder rechtspopulistische Parteien triumphiert. In Deutschland allerdings hätte sich die AfD bundesweit wahrscheinlich mehr erhofft, in Dänemark ist die fremdenfeindliche Fortschrittspartei eingebrochen. Und aus den Niederlanden schickt Geert Wilders überhaupt keinen Abgeordneten mehr nach Brüssel.

Zusammengenommen erhalten die Parteien rechts der Christdemokraten etwas mehr als 170 Sitze - im bisherigen Parlament waren es 155. "Die Gefahr eines grossen Rechtsrucks hat sich nicht bewahrheitet, er ist geringer ausgefallen als gedacht", sagt daher Stefan Haussner, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Innerhalb dieses Lagers wird sich das Gewicht wohl in Richtung der ganz rechten Parteien eines Bündnisses um Salvini, Le Pen und die AfD verlagern. "Die Mehrheiten im Parlament werden sich aber auch abseits von Rechtspopulisten und Rechtsextremen bilden können", sagt Haussner.

2. Auch Europa-Befürworter lassen sich mobilisieren

Zum ersten Mal seit den ersten direkten EU-Parlamentswahlen 1979 ist die Wahlbeteiligung in diesem Jahr gestiegen - wenn auch nicht in allen Staaten. Die Entwicklung sei vor allem von grossen Mitgliedsländern wie Spanien, Polen, Rumänien und Deutschland ausgegangen, sagt Stefan Haussner.

"Mit Themen wie Glyphosat, Datenschutz-Grundverordnung und Urheberrechtsreform ging es in diesem Jahr um europäische Entscheidungen, die grosse Auswirkungen hatten", erklärt Haussner.

Hinzu kommt, dass Parteien und Medien im Vorfeld verstärkt auf die Bedeutung dieser Wahlen hingewiesen hatten. Das hat offenbar viele Menschen an die Wahlurnen getrieben: "Im Wahlkampf war zu merken, dass die Kernstrategie vieler Parteien in der Mobilisierung einer schweigenden pro-europäischen Mehrheit bestand."

3. Es bleiben 28 nationale Abstimmungen

Trotz der gestiegenen Beteiligung, trotz europaweiter Themen und Spitzenkandidaten - nach Haussners Einschätzung kann man von echten europäischen Wahlen noch nicht sprechen. Die Spitzenkandidaten hätten vor allem Einfluss auf die Wähler in ihren Heimatländern gehabt.

In Deutschland zum Beispiel plakatierte die SPD lieber Katarina Barley als Frans Timmermans, die Grünen warben unter anderem mit ihren Parteivorsitzenden. "Die Europawahlen kommen ein Stück weit aus ihrem Schattendasein heraus", sagt Haussner. "Aber es bleiben 28 national geprägte Wahlen."

Das zeigen auch die unterschiedlichen Ergebnisse in den Einzelstaaten: Die Grünen legen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Belgien, Finnland, Irland und Frankreich deutlich zu.

In einigen Staaten Süd- und Osteuropas spielen sie allerdings keine Rolle. Die Sozialdemokraten brechen in Italien und Deutschland ein, verbuchen aber Gewinne in Spanien, Portugal oder Bulgarien. Und die Christdemokraten können sich trotz ihrer geschrumpften Fraktion über gute Ergebnisse in Österreich, Griechenland und Schweden freuen. Europa bleibt politisch bunt und widersprüchlich.

4. Liberale und Grüne vergrössern Einfluss

Auch wenn es eine offizielle grosse Koalition nie gab: Zum ersten Mal in der Geschichte des direkt gewählten EU-Parlaments verlieren Christ- und Sozialdemokraten ihre gemeinsame Mehrheit.

Die Mehrheitsfindung in Brüssel und Strassburg wird damit deutlich schwieriger. "Grüne und Liberale könnten bei Einzelentscheidungen zu Königsmachern werden", sagt Stefan Haussner.

5. Gute Chancen für Frau auf Spitzenposten

Der Bayer Manfred Weber (CSU), der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans und die dänische Sozialliberale Margrethe Vestager wollen alle auf den Chefposten der EU-Kommission. Die Lage ist jedoch kompliziert: Der neue EU-Kommissionspräsident wird nicht nur eine Mehrheit im Parlament, sondern auch unter den Staats- und Regierungschefs hinter sich bringen müssen.

Ein Kunststück, das vielleicht noch am ehesten Margrethe Vestager gelingen dürfte. Die Liberale sei in Brüssel hoch angesehen und somit eine mögliche Kompromisskandidatin, sagt Stefan Haussner.

Zudem hat sich auch in Brüssel vielerorts die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Zeit auf EU-Ebene reif wäre für eine Frau in einer Spitzenposition. Auch wenn sie damit noch deutlich unterrepräsentiert sind: Im Europäischen Parlament ist der Frauenanteil jetzt immerhin auf 37 Prozent gestiegen - so hoch war er noch nie.

6. Deutschland ist politisch gespalten

Neben dem schlechten Abschneiden von CDU und SPD fallen in Deutschland vor allem die unterschiedlichen Ergebnisse in West und Ost auf. In den meisten Grossstädten, zum Teil auch in ländlicheren Gebieten des Westens wurden die Grünen am Sonntag die grösste Partei.

In grossen Teilen des Ostens hat es dagegen die AfD an die Spitze geschafft: Den eher mässigen bundesweiten elf Prozent stehen knapp 20 Prozent in Brandenburg und 25,3 Prozent in Sachsen gegenüber. Die dortigen Landtagswahlen in diesem Jahr bleiben für die etablierten Parteien eine grosse Herausforderung.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Stefan Haussner, Universität Duisburg-Essen
  • www.europawahl.eu: "Europäisches Parlament: Europawahl 2019 - Wahlergebnisse"
  • Politico.eu: "In Graphics - how Europe voted"
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